Ein Tag wie viele andere?
Der 3. Dezember 1994 dämmerte wie viele gewöhnliche Tage zuvor. Penny und ich wachten auf, bereiteten uns auf einen neuen Tag vor und weckten unsere beiden lieben Kinder – Caleb (dreieinhalb Jahre alt) und Abigail (zehneinhalb Monate) – aus ihrem süßen Schlummer. Nach dem Frühstück und einigem Drängeln und Überreden luden wir sie schließlich mit ihren Sachen in unseren Buick Skylark, Baujahr 1984 mit seinem schönen, undichten Schiebedach und fuhren los. Zweieinhalb Stunden Weg bis zu einer Kirche in Almond, Wisconsin lagen vor uns.
Wir waren beide 26 Jahre alt und nun schon seit fast fünfeinhalb Jahren verheiratet. Caleb war ein freundlich gestimmter, schüchterner Junge. Süß, blond, schmächtig und liebevoll. Er ließ sich leicht belehren, fast schon bedrohlich leicht. Ein scharfer Blick reichte völlig aus. Abigail war lebendiger und ausdrucksvoller. Sie liebte Umarmungen und Essen und war ein glückliches Baby. Obwohl ich keine Kinder gewollt hatte, freute ich mich auf nichts so sehr wie darauf, nach der Arbeit nach Hause zu unserem gemieteten Wohnwagen zu kommen und zu hören, wie Caleb rief: »Papa ist da!« Dann rannte er zu Tür und Abi-Joe, wie er sie nannte, krabbelte ihm nach. Caleb und Abigail waren der Segen unseres Lebens und brachten frischen Wind in unsere schlaffen Segel, auch wenn mir das damals gar nicht so bewusst war.
Meine Predigt in der Kirche
An jenem Tag predigte ich darüber, dass wir die Erinnerungen an Gottes Güte in unserem Leben immer frisch halten müssen. Nach der Predigt aßen wir zu Mittag und bestiegen dann das Auto, um nach Hause zu fahren. Als ich Caleb in seinem Autositz anschnallte, lächelte er und sagte: »Es ist kalt, Papa.« Ich lächelte zurück, sagte, dass alles in Ordnung sei. Wir beteten, dankten Gott für das, was er hier bewirkt hatte, und baten um Schutz auf dem Heimweg.
Der Unfall, der alles veränderte
Als wir aus dem kleinen Städtchen hinausfuhren, stellte ich meine Rückenlehne etwas nach hinten, um mich ein wenig auszuruhen, während meine Frau uns nach Hause fuhr. Caleb und Abigail auf der Rückbank schliefen ebenfalls.
Plötzlich wachte ich erschreckt durch den Schrei meiner Frau auf.
Ich schnellte aus meinem leicht zurückgelehnten Sitz vor und sah gerade noch zwei Dinge: den völlig entsetzten Blick meiner Frau und dann ein anderes Auto, das uns überholte, während unser Auto rechts von der Schnellstraße abkam. Im Bruchteil einer Sekunde, bevor ich etwas tun konnte, überschlug sich das Auto seitlich dreimal bei einer Geschwindigkeit von etwa 100 km/h, als es die Böschung hinabrollte. Die Fahrerseite erlitt den ersten starken Aufprall. Als das Auto das erste Mal aufschlug, befand ich mich also auf der dem Aufprall abgewandten Seite. Bei jeder Umdrehung schien ich eine Stimme zu hören oder einen Eindruck, der sagte: »Zieh den Kopf ein!«, was ich auch tat. Die Zeit schien im Zeitlupentempo zu vergehen. Das Geräusch von krachendem Blech, ein Schrei, splitterndes Glas, ein kalter Luftzug – alles stürmte auf meine Sinne ein. Schließlich ein dumpfer Schlag und Stille.
War es ein Traum? Ein schrecklicher Traum? Hatte mein Mittagsschläfchen dieses makabere Schauspiel ersponnen? Als meine unfreiwillige Achterbahn zum Stillstand kam, dröhnte mein Kopf und mein Fußgelenk schmerzte. Ansonsten war ich aber bei Bewusstsein. Es war kein Traum, so sehr ich es mir auch wünschte.
Manchmal ist Bewusstlosigkeit Gnade.
Wie in der unheimlichen Stille nach dem Sturm horchte ich auf und merkte, dass der Motor immer noch lief. Ich schaltete ihn aus. Dabei sah ich, dass meine Frau in ihrem Sitz zusammengesunken war. Sie bewegte sich nicht. Blut. Erbrochenes. Ihr Haar und ihr Gesicht waren verfilzt und entstellt von einer kaum definierbaren Mischung aus Flüssigkeiten und Glassplittern. Die Fenster waren alle weg und die Windschutzscheibe hing nur noch an ihrer Beschichtung. Ich versuchte meine Tür zu öffnen; sie klemmte. Ein fühlbares, unerträgliches Grauen beschlich mich. War meine Frau tot? Ich rief ihren Namen. Sie bewegte sich nicht. Dann drehte ich mich nach meinen Kindern um.
Als ich den Kopf nach links drehte und dabei einen stechenden Schmerz fühlte, erblickte ich etwas, was ich nie mehr vergessen werde, obwohl ich tausendfach darum gebetet habe, dass ich es vergessen kann! Als ich zur Rückbank schaute, wo meine beiden Kinder sein sollten, graute mir vor dem, was meine Augen sahen. Da saß meine kleine Abigail nicht in ihrem Kindersitz sicher angeschnallt und vor dem Aufprall geschützt, sondern sie hing aus dem hinteren Fenster, gehalten vom Sicherheitsgurt, der versagt und sich in eine Schlinge verwandelt hatte! Die andere Seite der Rückbank, wo Caleb hätte sitzen sollen, war leer. Wo war mein Junge? Ein unaussprechliches Grauen bemächtigte sich meiner.
Während die Trauer und der völlige Zusammenbruch meiner Welt mich zu erdrücken drohten, spürte ich, wie ein unkontrollierbarer Vaterinstinkt aus meinem Inneren hervorbrach, der meine Tochter retten wollte. Wie konnte ich so schnell wie möglich zu ihr gelangen? Würde ich rechtzeitig kommen? Die Fragen, die Angst, die Kraft, die Dringlichkeit ergriffen von mir derartig Besitz, dass ich mich heute nicht mehr erinnern kann, was ich damals getan habe. Konnte ich die Tür mit Gewalt öffnen? Kroch ich durchs Fenster? Wie kam ich dorthin? Die Gefühle waren so stark, dass ich es nicht mehr weiß. Ich erinnere mich nur noch an die quälende Finsternis jener Gefühle, die mich in diesen 15 intensiven Sekunden überkamen. Als ich schließlich neben ihr war, sie in den Arm nahm und aus dem Gurt befreite, spürten meine Hände, wie schlaff und reaktionslos sie war. Ich war zu spät gekommen.
Jetzt packte mich eine neue Panik. Wo war Caleb? Mit meiner kleinen Tochter in Händen, fast vernichtet von der Hoffnungslosigkeit des Augenblicks, begann ich nach ihm zu suchen. Er war offensichtlich aus dem Fahrzeug geschleudert worden. Verzweifelt lief ich von einer Seite zur anderen, hielt meine Tochter eng an die Brust gedrückt, wünschte mit meinem ganzen Sein, dass ich ihr etwas von meinem Leben geben könnte und suchte nach Caleb. Mit jeder verstrei-chenden Sekunde wuchs die Hoffnungslosigkeit. Schließlich sah ich ihn, fast 30 Meter entfernt, bewegungslos im Gras liegen. Ich rannte zu ihm und legte Abigail vorsichtig neben ihn, um zu sehen, ob es ihm gut ging. Keine Reaktion. Keine Antwort. Sein Brustkorb bewegte sich nicht. Wieder war ich zu spät gekommen.
Ich erinnere mich, dass ich Caleb auf die Stirn küsste. Ich wusste nicht warum. Vielleicht dachte ich, dass der Kuss eines Vaters etwas bewirken könne. Doch vergeblich. Da kniete ich, umgeben von denen, die einst meine Familie gewesen waren. Caleb und Abigail lagen vor mir, gebrochen und unbeweglich. Meine Frau war eingeschlossen in einem zerdrückten Fahrzeug wenige Meter entfernt. Das zugerichtete Blech unseres Buick war nun ein treffendes Symbol für meine Welt. Ich stand auf, stolperte ziellos in der Leere zwischen meinen Kindern und meiner Frau umher und schrie:
»Gott! Wo bist du?«
Am Unfallort
Wegen meines benebelten Zustands damals erinnere ich mich nur schwach an das, was um Penny und das Auto herum vor sich ging. Ein Polizeibeamter kam zu mir und stellte mir eine Menge Fragen. Name, Wohnort, Personalausweis usw. Dann kamen die Rettungssanitäter und wollten mich auf die Krankentrage legen. Ich schrie sie an, sie sollten mich in Ruhe lassen und sich um meine Kinder kümmern. Doch alle meine Worte konnten die tapferen Freiwilligen nicht davon abbringen, mich sanft zu überwältigen, am Nacken festzuschnallen und vorsichtig hochzuheben. Als sie mich zu dem wartenden Krankenwagen trugen, neigten sie die Trage an der Böschung unabsichtlich weit genug, dass ich mein Jackett über Calebs Gesicht liegen sah und einen Pullover über Abigails. Diese Symbolik aus den Kinofilmen schnürte mir die Luft ab. Was ich ahnte, bestätigte sich: Meine lieben Kinder waren tot.
Eine Welle unbeschreiblichen Grauens begann, mich unter sich zu begraben. Die Türen hinter mir schlossen sich. Jede Unebenheit der Straße erinnerte mich daran, dass ich mich nicht bewegen konnte. Ein ganz und gar ohnmächtiger Vater war ich! Ich war unbrauchbar. Trauer, Versagen, Schuld und Angst übermannten mich. Was konnte ich tun? Nichts!
In der Notaufnahme
Als wir in einem sehr kleinen Krankenhaus ankamen, wurde ich geröntgt und vom diensthabenden Arzt untersucht. Der Befund: Keine Gefahr!
Doch was war mit meiner Frau?
Ich schaute in das ruhige und traurige Gesicht des Arztes, der mich mit direktem Blick aufmerksam anschaute. Sie befand sich gerade jetzt im Rettungshubschrauber, nachdem man sie aus dem Auto befreit hatte. Das kleine Krankenhaus konnte ihr nicht helfen. Ihre einzige Hoffnung war die kilometerweit entfernte Unfallklinik in Madison. Wenn sie die Reise überlebte … Wenn war das winzige, aber mächtige Wörtchen, das ich allein hörte. Wenn sie überlebte, würde ich sie dort finden. Aber das Krankenhaus war mindestens eine Stunde entfernt!
Bangen um Penny
Als wir schließlich auf der Intensivstation ankamen, sagte man uns, Penny habe tatsächlich überlebt. Man wisse nicht, wie lang sie leben würde und ob oder wie sie weiterexistieren würde. Man wusste von einem unglaublichen Schädeltrauma. Beide Lungen seien kollabiert und es schien auch einige Knochenbrüche zu geben. Sie war an Schläuche angeschlossen, medikamentös eingestellt, aber dem Koma nahe. Wir mussten warten. Würde sie überleben oder leise an denselben Ruheplatz gleiten, an dem sich auch unsere lieben Kinder befanden. Ich schaute fassungslos und betäubt auf die übel zugerichtete Gestalt meiner Frau.
Alles hatte sich in nur wenigen Augenblicken verändert. Diese neue Wirklichkeit zehrte meine Welt immer weiter auf. Was aus meinem Leben nach diesem Tag auch werden würde, es würde auf jeden Fall nie mehr dasselbe sein.
Am nächsten Tag könnte ich versuchen, mit Penny zu reden; denn die Wirkung der Medikamente hätte dann ausreichend nachgelassen, dass sie reagieren könne, wenn es noch eine Reaktion geben würde. (Ich fing jenes Wörtchen allmählich zu hassen an.)
Ich stand am Bett meiner Frau und traute mich nicht zu hoffen. Ich hatte Angst davor zu erfahren, ob sie je wieder sprechen würde. Wir warteten. Langsam trotzte ich meinen Ängsten und berührte ihren rechten Arm.
Er bewegte sich!
Schockiert begann ich zu ihr zu reden und beugte mich immer näher über sie, um alles aufzuschnappen, was sie sagen könnte. Die Hoffnung kämpfte sich zeitweise frei aus dem Schwitzkasten der Verzweiflung. War Penny tatsächlich immer noch da drinnen? War es möglich, dass sie diese schreckliche Feuerprobe überlebt hatte?
Die ersten Worte
Die Sekunden tickten in Zeitlupe. Sie schien zu wissen, dass ich da war und öffnete langsam ein Auge, um nach mir zu suchen! Eine Welle der Hoffnung drängte mich vorwärts. Ihre Augen suchten. Dann sah sie mich! Langsam öffnete sie den Mund und begann zu sprechen. Ich hörte sie erst nicht, deshalb flüsterte sie es noch einmal. Meine tapfere, liebe Penny; was würde sie sagen? Ihre ersten Worte kamen ihr fast nicht über die Lippen: »Wo … sind … die … Kinder?«
Wieder schien meine Welt zusammenzubrechen. Sie wusste es nicht! Natürlich, es hatte ihr ja niemand sagen können. O Gott! Warum ich? Caleb und Abigail waren ihr Leben. Ich war es mit Sicherheit nicht. Alle meine Probleme und mein Versagen hatten sie über die Jahre tief verletzt; für mich zu kämpfen, würde sich keinesfalls lohnen. Vergeblichkeit, Versagen und Verzagen verbargen mich unter sich. Verlorenheit und Verzweiflung stürzten sich auf mich, traten mich, bearbeiteten mich mit Fäusten, pressten das Leben aus mir heraus. Meine Beine knickten ein, die Gebrochenheit brach aus mir hervor. Ich konnte nicht mehr stehen. Jeffs Arme umschlossen mich fester und ich hörte mich die Worte in Pennys Ohr flüstern: »Sie sind gestorben, Schatz, sie sind tot.«
Ihre Augen schlossen sich. Stille! Die Gebrochenheit überwältigte mich wie einen Gefangenen, der in die Zelle der Hoffnungslosigkeit gesperrt wird.
Geschenk des Vergessens und Vermächtnis der Erinnerung
Erstaunlicherweise ging es Penny bald besser. Deshalb äußerten sich die Ärzte schon wesentlich zuversichtlicher und kümmerten sich jetzt auch um ihre lebens-un-bedrohlichen Verletzungen. Sie fragte nach den Einzelheiten des Unfalls. Aber ich konnte nicht darüber reden. Zu niederschmetternd waren sie für mich – und erst recht für sie in ihrem Zustand.
Sie wollte wissen, ob sie eine gute Mutter gewesen sei. Das konnte ich bejahen. Ich fragte sie, was den Unfall ausgelöst habe. Doch daran erinnerte sie sich nicht. Sie litt unter völligem Gedächtnisverlust. Gott hatte ihr in seiner Barmherzigkeit die Erinnerung völlig genommen. Was für ein Geschenk für sie, das mir leider vorenthalten wurde. Warum?
Jahrelang fühlte ich mich wie unter einem Fluch, litt psychische Qualen und hatte Flashbacks vom Unfalltag. Erst viel später wurde mir klar, dass ich ein großes Vermächtnis empfangen hatte: Ich durfte der Hüter der letzten Erinnerungen an unsere Kinder sein; an ihr Lächeln und Lachen, an Abigails erste Schritte und ihre friedlichen Gesichter zuletzt im Auto, als wir auf der Schnellstraße fuhren. Eines Tages würde ich uns mit diesen Erinnerungen helfen, einen Schlussstrich unter das dunkle Kapitel zu ziehen. Doch dieser Tag lag noch weit in der Zukunft!
Vom Leid überwältigt
Die Monate nach dem Unfall veränderten unser Leben völlig. Die Finsternis überstieg alles bisher Erlebte. Mitten im Sturm gibt es nur wenig Licht und noch weniger Hoffnung auf Überleben.
Manche fragen sich: Wie kommt man aus so einem Loch wieder heraus? Wie geht man mit dieser erdrückenden Trauer um? Ich glaube nicht, dass sich das leicht beantworten lässt. Eines ist jedenfalls eindeutig: Trauer entzieht sich unserer Kontrolle!
Aber obwohl der Sturm uns beide überwältigte, trauerten wir beide doch unterschiedlich. Penny ging damit anders um als ich. Als Mutter und Frau empfand sie alles auf eine Weise, die ich nicht ganz verstand. Wir gingen zwar gemeinsam durch den Schmerz, doch er trennte uns auch voneinander. Es blieb uns nichts anderes übrig, als ihn sowohl alleine als auch gemeinsam zu bewältigen. Hinter jeder Ecke lauerte er auf uns, und unsere Gefühle warfen uns von einer Schmerzwelle in die nächste.
Entkommen aus der Grube
Ich beschreibe unsere Erfahrung gern durch ein Gleichnis. Wir fühlten uns wie ein wildes Tier, das versucht, die Wände einer Grube hochzuklettern, die höher ist, als es klettern kann. Es kann nichts dafür, dass es in der Falle sitzt und wenige Überlebenschancen hat. Mit jedem Sprung und jeder Streckung vergeudet es scheinbar seine Energie an den unbarmherzigen Wänden. Das Herz schlägt, die Lungen pfeifen, Muskeln werden angespannt und ziehen sich zusammen. Je mehr das Tier es versucht, desto mehr scheint es zu versagen. Manchmal findet es einen Vorsprung, doch er ist nicht stabil genug, um sein Gewicht zu halten. Rums! Immer wieder Schmerz und Versagen. Die dunkle Wolke aus Erde und Steinen fällt auf das arme, glücklose Wesen und überzieht es genauso mit einer Schmutzschicht wie die offensichtliche Verzweiflung.
Die Fluchtversuche sind zuerst fieberhaft, dann verlieren sie an Kraft. Schließlich scheint es angesichts der Wirklichkeit zu resignieren. Nie wird es aus der Grube entkommen. Hoffnungslosigkeit überschattet das Lebewesen. Verzweiflung macht sich breit.
Doch dann tut sich etwas. Wie ein unvorhergesehenes Erdbeben fängt das Tier wieder an zu klettern. Es kämpft und springt wieder und wieder gegen die Wand. Wie ein Sagentier, das nicht sterben wird, kämpft es Tag für Tag ums Überleben, und es überlebt! Etwas geschieht.
Die Steine und die Erde, die sich bei jedem Sprung von den Wänden lösen, häufen sich am Boden auf und die Entfernung zum Grubenrand wird schließlich (es mag uns wie eine Ewigkeit vorkommen) geringer. Von der neu gewonnenen Anhöhe auf dem Grubenboden aus wiederholt sich der Zyklus: Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Entmutigung. Fast verliert das Tier die Hoffnung. FAST. Größere Entschlossenheit, mehr Erde und Steine, bis schließlich die Hoffnung über den Grubenrand blinzelt und sich ein ausgemergeltes Tier daran klammert – bereit, noch einen weiteren Tag ums Überleben zu kämpfen.
In den Monaten nach dem Unfall traf dieses Gleichnis auf mich zu. Ich kämpfte ums Überleben. Mit jedem Ausbruch der Emotionen wrangen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung buchstäblich das Leben aus mir heraus, bis ich fürchtete, ich würde sterben. Ich erlebte auch diese kurzen Hoffnungsmomente, welche die Finsternis durchbrachen, nur um dann erneut durch grauenhafte Erinnerungen und zerstörte Träume zu Boden geworfen zu werden. Als Schmerz, Verwirrung und Tränen mein Leben aussaugten, wollte ich nur noch aufgeben und sterben. Doch dann, wenn die Hoffnung verschwunden war, rührte sich auf geheimnisvolle Weise etwas in einer Ecke, was ich weder erklären noch steuern konnte. Etwas, das größer war, als ich es wahrnehmen konnte, zog mich plötzlich vorwärts und bewog mich, noch ein letztes Mal aufzustehen.
Sonnenaufgang
Ich erinnere mich immer noch an den Morgen, als ich Penny in die Augen schaute. Viele Monate waren seit dem Unfall vergangen, vielleicht sogar mehr als ein Jahr. Wir saßen am Frühstückstisch und hatten uns daran gewöhnt, alleine zu sein. Penny kochte wieder. Als ich mein Marmeladenbrot zum Mund führte, geschah etwas, womit buchstäblich ein neuer Tag anbrach. Gerade schob sich sein erster Glanz über den Horizont. Es waren die Worte, die uns aus der Finsternis ins Licht brachten, als Penny sagte:
»An dem Tag sind nur zwei Menschen gestorben.«
Wir schauten uns an. Das stimmte. Nicht die genaue Anzahl. Die war ja offensichtlich. Nein, die tiefere Bedeutung.
Die Wucht des Unfalls hätte ausgereicht, um uns alle vier zu töten. Als sich unser Gebrauchtwagen ohne Airbags damals im Jahr 1994 mit 100 km/h überschlug, hätte das unser aller Ende bedeuten müssen. Dennoch wurde ich nicht einmal verletzt, und Penny entkam dem Tod und möglichen Hirnschäden, sodass sie weiter kämpfen und leben konnte.
Vom Warum zur Akzeptanz
Warum? Dieses Wörtchen hatte uns monatelang gequält. Doch jetzt lud es uns zu der Frage ein: Warum leben wir noch? Was oder wer hat eingegriffen? War es möglich, dass es einen Sinn für unser Weiterleben gab? Als wir uns so anschauten und das Gewicht der Worte einsank, bewegten wir uns vorsichtig auf den unwirklichen Ort zu, der den Namen »Akzeptanz« trägt.
In den folgenden Tagen überlegten wir weiter und suchten nach Antworten. Wir schauten auf die vergangenen Monate zurück, dachten über die Dunkelheit, den Schmerz und den Gedächtnisverlust nach. Bevor uns die Wahrheit der Worte, die Penny gerade gesprochen hatte, bewusst wurde, hatten wir uns oft schuldig gefühlt, wenn wir lachen mussten – hatten keine langfristigen Pläne mehr gemacht. Immer noch waren unsere Träume vom Tod unserer Kinder beherrscht worden, sowohl tags als auch nachts. Wir existierten wie eine leere Hülse, aus der unsere alte Identität gewichen war.
Doch Pennys Worte drängten uns nach vorne.
Wir waren nicht gestorben. Also musste es in Ordnung sein, dass wir noch lebten. Deshalb durften wir auch wieder aufleben. Wir erkannten plötzlich, dass es in Ordnung war zu lachen, träumen, hoffen, auch ohne dass uns unsere Schuldgefühle lähmten oder wir uns wie Verräter vorkamen. Es fühlte sich an, als wachten wir langsam auf, als rieben wir uns die verschlafenen Augen und erkannten, dass unser Überleben einen tiefen Sinn hatte.
Auf uns wartete eine Zukunft!
Nicht Zufall, sondern Liebe
Als wir weiter über die vorigen, finsteren Monate nachdachten, verbanden wir die einzelnen Lichtpunkte der Liebe miteinander, mit der uns unsere Freunde begegnet waren. Unerklärliche Glücksmomente ergaben plötzlich ein schönes Muster, das wir nicht einfach so abtun konnten. Dinge, die andere Zufall nennen, geschahen immer häufiger, bis wir merkten, dass sie ganz und gar nicht zufällig passierten, sondern irgendwie bis ins Kleinste koordiniert waren. Erinnerungen wurden wach. Da stand plötzlich ein fein gewirktes Kunsthandwerk vor uns. Etwas oder Jemand, was kein Zufall sein konnte. Langsam aber sicher stieg aus der Asche das Bild eines Gottes, der über dem Chaos am Wirken ist. Bald würde es in vollem Glanz hoch am Himmel stehen.
Wie kann ein liebender Gott so viel Leid zulassen?
Gott war uns nicht unbekannt gewesen. Wir hatten sogar eine persönliche Beziehung zu ihm gehabt. Doch als unsere Kinder starben, nachdem ich gerade eine Predigt über den Glauben gehalten und um Schutz auf der Heimfahrt gebeten hatte, da wurde unsere Wahrnehmung von Gott radikal in Frage gestellt! Im Sturm unserer Wut wurde auch Gott ein Opfer dieses schrecklichen Unglücks. Unser Gottesbild lag in Scherben. Was für ein Gott konnte so etwas Furchtbares zulassen?
In meinem Leben hatte ich aber einen schweren Fehler in mein Gottesbild integriert. Ich meinte fälschlicherweise, dass meine Beziehung zu Gott auf dem beruhte, was ich für ihn tat. Ich studierte meine Bibel und lernte sie auswendig; ich betete und machte Andacht; ich predigte und gab Zeugnis; ich tat alles Richtige und mied das Falsche. Was lag allem zu Grunde? In vieler Hinsicht beruhte mein Glaube auf dem, was ich tat.
Dann starben meine Kinder direkt vor meinen Augen.
Wenn wir völlig am Ende sind
Alles änderte sich. Ich predigte nicht mehr und bemühte mich nicht mehr, andere mit dem Evangelium zu erreichen. Ich war nichts als ein Mann, der abwechselnd unter Wut oder Niedergeschlagenheit litt und sich mit seiner Frau gegenseitig immer wieder Wunden zufügte. Wenn ich die Augen schloss und betete, erfasste mich oft ein Flashback. Der Schmerz, die Furcht, das Versagen attackierten mich, bis ich unkontrolliert zitternd in der Ecke saß. Spätestens dann hörte ich mit Beten auf. Ich musste wohl meinen Glauben verloren haben, entschied ich.
Einige Zeit danach erzählte ich unserem Seelsorger, ich müsse meinen Glauben wohl verloren haben. Ich sagte einfach: »Frank, ich denke, ich bin kein gläubiger Mensch mehr, weil … ich kann nichts mehr von dem tun, was ich früher getan habe.« Er hörte mir zu und bat mich, das genauer zu erklären. Ich sagte, ich könne mit Gott nichts mehr anfangen und nichts mehr für ihn tun. Alles, was ich früher getan hätte, sei machtlos. Außerdem sei ich wütend auf Gott wegen meines Schicksals. Wie konnte Gott meine lieben Kinder so sterben lassen? Dann sagte er etwas, was ich nie mehr vergessen werde.
Sich von Gott lieben lassen
Er schaute mir direkt in die Augen, hielt inne und sprach folgende Worte in mein Leben: »Bryan, nicht was du für Gott tust, baut deine Beziehung auf; sondern was Gott für dich tut! Im Moment bist du verletzt und kannst nichts tun. Lass dich von Gott umarmen und in deinem Verletztsein lieben!« Er erklärte weiter, dass unser großer Gott, der Schöpfer aller Menschen in allen Lebensbereichen von ganzem Herzen um uns wirbt. Wir entscheiden uns nicht für ihn. Er hat sich schon für uns entschieden!
An jenem Nachmittag half mir Frank die erstaunliche Liebe Gottes mitten in meiner absoluten Unfähigkeit zu erkennen. Das veränderte mich. Lichtstrahlen fielen in mein Dunkel.
Ich sah Gott plötzlich als einen Gott, der tief, beharrlich und voller Hingabe liebt, der um mich wirbt und Ereignisse einfädelt, die mich frei machen. Vor allem ein Vers bekam eine ganz neue Bedeutung für mich. In Jeremia 31,3 sagt Gott dem Volk nach einer entsetzlichen Zeit des Gerichts und der Gebrochenheit: »Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt; darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Gnade.«
Unvorstellbar! Nachdem ich mit Frank gesprochen hatte, erzählte ich Penny von meiner neuen Erleuchtung. Wir überlegten, was das bedeutete. Ein neuer Blickwinkel auf Gott entstand. Konnte es wirklich wahr sein?
Wenn dein Kind blutet
Ich vergleiche unsere radikal neue Erkenntnis gerne mit einem kleinen Kind, das zu seinem Vater rennt. Plötzlich stürzt das Kind auf den unbarmherzigen Asphalt und schürft sich Knie, Hände und Kopf schlimm auf. Es blutet, hat tiefe Wunden, große Schmerzen, und brüllt los. Der Vater rennt schnell zu ihm, nimmt es vorsichtig auf den Arm, hält es fest und versorgt seine Wunden, ja wichtiger: Er versorgt sein Kind. Er spricht tröstende und ermutigende, aber keine verurteilenden Worte. Die Zeit scheint still zu stehen, während er mit seiner Liebe das leidende Kind umgibt.
Stellen wir uns nun einen Vater vor, der von Weitem zuschaut, die Leistung des kleinen Jungen beurteilt, der sich anstrengt, um sein Lob zu ernten, und dabei immer schneller wird. Die unerfahrenen Füße stolpern, und der kleine Läufer stürzt zu Boden. Der Junge schreit vor Schmerzen, aber der Vater bleibt, wo er ist, und schreit seinen Sohn an: Steh auf und lauf weiter! Pass auf, dass du nicht noch mal hinfällst und renn schneller – schneller!
Was für ein Gegensatz! Frank hatte uns eingeladen, Gott wie den ersten Vater zu betrachten, nicht wie den zweiten! Doch mein Bild von ihm glich mehr dem zweiten Vater. Jetzt mit unseren tiefen seelischen Wunden konnten Penny und ich nicht rennen. Wir hatten nichts zu geben und auch nichts mehr zu beweisen. Wir waren am Ende. War es möglich, dass Gott uns mit unseren Schmerzen in die Arme nahm und uns Zeit zum Heilen schenkte? Die Worte hallten nach: »Lass dich von Gott lieben!« Sicher, schlussendlich würde es vielleicht wieder eine Zeit zum Rennen geben, aber das würde noch lange dauern. Auch der Grund zum Rennen würde ein anderer sein. Wir mussten aufgrund dieser erstaunlichen Liebe unseren Wert nicht mehr irgendjemand beweisen.
Die Heilung hat begonnen
Dieses für uns neue Element von Gottes Gnade und Liebe floss in unsere gebrochenen Herzen und brachte allmählich Heilung. Es war keine Spontanheilung. Sie reifte monatelang heran. Aber wir lernten, wie man sich von Gott lieben lässt. Wir dachten nicht mehr, wir müssten etwas leisten, um bei ihm angenommen zu sein. Wir ließen uns einfach so lieben, wie wir waren, auch in unserer Gebrochenheit.
Wieder öffneten wir unsere verletzten Herzen für die ermutigenden Worte der Bibel. Berichte über Vertrauen und vollbrachte Wunder ließen immer mehr Hoffnung in uns aufkeimen. Vergebung und Geduld, mit denen Gott durch die Geschichte hindurch dem Menschen begegnet ist, ließen uns erkennen, dass Gnade und Barmherzigkeit schon länger auf uns einwirkten, als wir es für möglich gehalten hatten. Ein neues Bild von Gott entstand.
In der warmen, liebevollen Umarmung, bildete sich eine Kruste auf den entzündeten, schmerzenden Geschwüren, und sie vertrockneten. Jetzt, wo Gottes Liebe in unsere Herzen ausgegossen wurde, hatten wir mehr Geduld miteinander. Die explosive Wut schmolz dahin. Als der Nebel der Depression sich langsam hob, konnten wir allmählich nach vorne schauen, viel weiter als es noch vor Monaten der Fall gewesen war. Weil wir uns von Gott hatten lieben lassen, saßen wir also nun an jenem Morgen am Frühstückstisch, starrten uns an und hatten die monumentale Erleuchtung, dass nur zwei Menschen an jenem Tag in dem Unfall gestorben waren. Diese Aussage löste in unserer Welt einen Paradigmenwechsel aus. Was hatte das zu bedeuten?
War es möglich, dass der liebende Gott uns verschont hatte, weil er mit uns noch einen Plan verwirklichen wollte? War es möglich, dass er uns seine Liebe auf eine Weise spüren lassen wollte, von der wir nicht einmal ahnten, dass wir sie brauchten? Konnte es sein, dass Caleb und Abigail im Großen und Ganzen nur Schmerz und Krankheit verpassten? War es möglich, dass sie nach der Auferstehung der Toten (wie sie die Bücher der abrahamitischen Religionen lehren) an einem Ort aufwachsen werden, wo Liebe statt Sünde regiert? Was hatte dieser erstaunliche Gott mit Penny und mir jetzt vor, wenn das alles stimmte?
Als wir über diese Fragen nachdachten, begannen kleine Ideen wie Hoffnungssamen in unseren aufgebrochenen Herzensfurchen aufzukeimen und das Wasser aller Tränen der vergangenen Monate hungrig aufzusaugen. Jetzt konnten sie zu einer Ernte der Hoffnung heranwachsen. Der Winter war vorbei, der Frühling war gekommen.
Die Sonne ging wirklich auf mit Heilung unter ihren Flügeln und lud uns ein zu den Abenteuern der kommenden Tage unseres Lebens.