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Ehe und Familie

Deine kleine Welt verstehen

Einfach mit unseren Kindern Leben

Tom steht mit dicken Tränen in den Augen und mit noch viel dickeren Schlammklumpen an den Schuhen im frisch geputzten Eingangsflur. Mama, meine Schaufel ist in den Teich gefallen! Klar, das wäre alles nicht so schlimm, wenn nicht in zehn Minuten unser Besuch käme, das Essen noch nicht fertig ist und Tom jeden zweiten Tag vergisst, dass man seine Schlammschuhe doch am besten draußen auszieht. Sind wir mal ehrlich … Wir lieben unser Kind von ganzem Herzen, aber in manchen Situationen ist es trotzdem nicht ganz leicht, die Arbeit aus der Hand zu legen und unser Kind in den Arm zu nehmen. Aber gerade das ist es, was sie brauchen: nicht nur Mama körperlich anwesend, sondern Mama mit Herz und Seele.

Es gibt nur wenige Eltern, die ihre Kinder nicht lieben. Viele Eltern strengen sich bis aufs Äußerste an: Sie verschaffen ihrem Kind die besten Vorteile der Welt, handeln für ihr Kind und opfern sich für es auf. Oft versäumen sie aber, eine warme Beziehung zu dem Kind aufzubauen. Solche Eltern leben für ihre Kinder, fühlen eine tiefe Liebe für sie, aber sie leben nicht mit ihrem Kind. Es fehlt ihnen an Kraft, den Charakter der Kinder positiv zu beeinflussen. Denn dafür ist beständiges Mitgefühl notwendig.

Mitgefühl

»Mitgefühl« wird oft falsch verstanden. Es bedeutet weit mehr als mit jemandem Mitleid zu haben, der in Schwierigkeiten steckt. »Mitgefühl gewinnt das Herz, steht dem Geplagten und Versuchten zur Seite und sagt: Dein Problem ist mein Problem! Komm, wir packen das gemeinsam an! Ich bin auch schon durch diese Hölle gegangen. Ich habe das alles auch schon erlebt, und ich weiß, was es bedeutet. Ich leide mit dir.« Mitgefühl bedeutet, mit den Freuden und Hoffnungen, den Wünschen und Zielen wie auch mit den Prüfungen und Sorgen des Lebens mitzufühlen.

Das kleine Kind sehnt sich ganz natürlich nach Mitgefühl und Zuneigung. »Schau, Mama, schau!«, ruft es bei jeder neuen Sache, die es am Tag entdeckt. Es sehnt sich danach, jemandem all seine Entdeckungen mitzuteilen, all das Neue und die Freude, die es erlebt. Und wenn es nicht zurückgewiesen wird, dann möchte es gern zum Ausdruck bringen, dass Mutter oder Vater diejenigen sind, die in seinem Herzen an erster Stelle stehen und die es tief bewundert. Wie schnell wird es bei Problemen in den schützenden Armen der Eltern Zuflucht suchen und Trost finden.

So eine Beziehung besteht nicht immer. Manchmal interessieren die Eltern sich nicht für das Kind, weil sie in Dinge vertieft sind, die ihnen wichtiger erscheinen. Sie sind zu »beschäftigt«, um auf seine Sorgen zu hören. Wenn es ganz begeistert vom Spiel draußen ins Haus stürmt und der Mutter strahlend davon erzählen will, dann sieht ihr erwachsener Blick oft nur den Matsch an den Schuhen, aber nicht die Freude in den Augen, und sie erstickt das Feuer im Kinderherzen mit den Worten: »Geh sofort raus mit deinen dreckigen Schuhen!« Sein forschender Geist, der geradezu nach Wissen hungert, lässt es unaufhörlich Fragen stellen. Weist man diese Fragen ab oder weicht ihnen aus, wird sein sensibler Geist entmutigt, und wird sich andere Informationsquellen suchen.

Eine starke Festung

Könnten wir Eltern doch nur erkennen, dass unser Leben mit den Kindern zu einer starken Festung werden kann! Dann wäre uns keine Anstrengung zu groß, diese Beziehung zu pflegen; denn nur so kann sie von Dauer sein! Dann würde sie mit den Kindern wachsen, sich mit den Jahren vertiefen, weil wir an ihrem Spiel, ihren Spielkameraden, ihren Schularbeiten, ihrer Arbeit, ihrem Lesestoff wie auch an ihren Vergnügen, ihren Freuden, ihren Sorgen und ihren tiefsten Gefühlen teilhätten.

Viele Eltern, die in den ersten Jahren tatsächlich mit ihren Kindern lebten, entfernen sich mit zunehmendem Alter von ihnen, weil sie nicht verstehen und darauf eingehen können, was der junge Mensch denkt und fühlt. Dadurch verhindern sie, dass die Kinder weiter die Zuneigung von Mutter oder Vater suchen. Kaum ist das Kind zum Jugendlichen geworden, bemerken die Eltern, dass es ihnen nicht mehr vertraut. Jetzt fragen sie sich besorgt, wie sie das verlorene Vertrauen wieder gewinnen können. Wenn das Kind kein Vertrauen hat, liegt der Fehler bei den Eltern. An irgendeinem Punkt im Leben des Kindes haben sie sich ausgeklinkt und haben den kostbaren Herzenszugang, den Gott ihnen am Anfang zu ihren Kindern schenkte, freiwillig aufgegeben. Sie haben das Geschenk nicht geschätzt, und so entstand durch Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit oder Selbstsucht eine Kluft, die das Kind davon abhält, sich an sie zu wenden, wenn es Mitgefühl sucht.

Bewahrt das Vertrauen des Kindes

Mit unseren Kindern zu leben, kann für die Eltern eine echte Geduldsprobe sein. Aber es ist viel leichter, das Vertrauen des Kindes und damit diese enge Verbindung zu bewahren, als einen verlorenen Schatz wiederzufinden. Wenn Eltern vertrauenswürdig sind, werden die Kinder ihnen auch vertrauen! Interessiert euch einfühlsam für die kleinen Hoffnungen und Sorgen des Kindes. Die Dinge, die die Aufmerksamkeit des Kindes fesseln, sind für es ebenso wichtig wie für uns die Sorgen und Einzelheiten eines komplexeren Erwachsenenlebens. Wenn es stundenlang versucht hat, einen Güterwagen mit Bauklötzchen zu beladen, er aber immer wieder in die falsche Richtung fährt und es frustriert in Tränen ausbricht, dann schimpft nicht mit ihm wegen seiner Ungeduld. Versetzt euch in seine Lage! Betrachtet die Dinge mit seinen Augen und begebt euch auf seine Ebene. Helft ihm, den Fehler zu finden und zu berichtigen, und fangt mit frischem Mut und Glück von Neuem an.

Man sollte sich nie über die Ideen des Kindes lustig machen und in seiner Gegenwart mit anderen darüber reden. Gebt ihm immer eine ehrliche Antwort auf seine Fragen! Täuscht es niemals in Worten oder Taten. Wenn es euch etwas erzählt, was es gehört hat, und ihr darüber erschreckt, dann tadelt es nicht mit einem Sag-so-was-ja-nie-Mehr! Hört ihm 

stattdessen bis zu Ende ruhig zu und zeigt ihm liebevoll den Fehler. Sagt ihm, wie froh ihr seid, dass es zu euch kam, und ermutigt es dazu, das ruhig immer zu tun.

Eltern, die mit ihren Kindern so eng verbunden bleiben wollen, werden ihnen gegenüber ihr Wort halten und ihr Vertrauen wie einen heiligen Schatz bewahren. Sie werden sie ebenso höflich behandeln wie eine ältere Person. 

Wenn sie in ihrem Übermut aus Versehen ihre Kleidung kaputt machen und euch in ihrem Enthusiasmus alles Schöne erzählen wollen, was sie erlebt haben, dann dämpft ihre Begeisterung nicht dadurch, dass ihr euch mehr um ihre zerrissene Kleidung kümmert als um ihr Glück und dabei sagt: »Du hast gerade deine Jacke ruiniert.« Kleidung ist wichtig, das ist wahr, aber nicht halb so wichtig wie das Kind, das sie trägt. Hört euch seine Geschichte an, zeigt eurer Interesse an seinem Glück und richtet dann erst die Aufmerksamkeit auf die (hoffentlich) weniger wichtige Sache, nämlich die Kleidung, und das in so einem Maß, wie ihr es für das Wohl des Kindes als notwendig erachtet.

Haltet nichts, was das Kind interessiert, als so geringfügig, dass ihr es nicht beachten müsstet. Interessiert euch für alles, was das Kind interessiert – die Schätze, die es in einem Bach, auf dem Feld und im Wald gesammelt hat, seine Erkundungen und die Dinge, die es herstellt, die in seinem Augen ebenso wunderbar sind wie für uns die Entdeckungen und Erfindungen eines älteren Genies. Schickt es nicht mit der Entschuldigung weg: »Ich habe gerade zu tun!« Wenn wichtige Angelegenheiten eure sofortige Aufmerksamkeit fordern, dann verabredet euch ebenso höflich mit ihm wie mit einer älteren Person – macht einen Termin, in einigen Minuten, in einer halben Stunde oder sogar einer ganzen Stunde. Sagt ihm, dass ihr ihm dann zuhören werdet, und bittet es um Geduld. Und vergesst diesen Termin auf keinen Fall! Behandelt das Kind genauso, wie ihr selbst von ihm behandelt werden möchtet, wenn ihr an seiner Stelle wärt. Versetzt euch in seine Lage.

Habt die Kleinen immer in eurer Nähe. Bezieht sie in eure Arbeiten mit ein, auch wenn sie mehr Hindernis als Hilfe sind. Erzählt ihnen von eurer eigenen Kindheit. Helft ihnen zu spüren, dass ihr sie und ihre Gefühle versteht, weil ihr das Gleiche durchlebt habt. Überprüft eure eigene Einstellung, damit ihr dem Kind keinen Anlass gebt, euch sein Vertrauen vorzuenthalten oder zu entziehen, und denkt daran, dass der erste Bruch schnell zu einer Kluft wird, die man nur schwer überbrücken kann.

Der verlorene Schatz

Wenn man aber nun einmal Fehler gemacht hat, wie kann man sie wieder gut machen? Am besten denken Eltern darüber nach, wie sie bis jetzt ihre Kinder behandelt haben, um herauszufinden, warum diese ihnen nicht vertrauen. Wenn sie ihren Fehler gefunden und Gott um Hilfe gebeten haben, dürfen die Eltern den Kindern ihre Versäumnisse bekennen und ihre Einstellung ihnen gegenüber radikal ändern. So eine Veränderung wird nicht ohne Folgen bleiben! Doch ihre Anstrengungen werden erst mit der Zeit Frucht bringen, wenn sich gezeigt hat, dass sie es wirklich ernst meinen. 

Hope Ledyard sagte: »Wenn eure Jungs oder Mädchen im Teenageralter sind sind und ihr ihr Vertrauen verloren habt, wenn sie mit euch nicht frei über jedes Geheimnis sprechen, wenn sie dazu neigen, mit Leuten Geheimnisse zu haben, die ihr nicht gutheißen könnt, würde ich Folgendes tun: Ich würde fast alles andere eine Zeitlang opfern, um ihre Herzen zu gewinnen. Ich würde ihre Gesellschaft suchen, mit ihnen ausgehen, mit ihnen zu Hause sein. Wenn ich sie so von meiner wahren Mutter- und Vaterliebe überzeugt habe, würde ich ihnen sagen, wie ich mich fühle, wenn ich an die Vergangenheit zurückdenke, und ich würde sie bitten, mir den verlorenen Schatz ihres Vertrauens wiederzuschenken. Ich würde das nicht ohne ernstes Gebet und große Sorgfalt tun, aber indem man so handelt, wird man – so glaube ich – das finden, was verloren gegangen ist, und die Engel werden sich mit euch freuen.«

Einfach mit unseren Kindern leben

Wie wunderbar ist so eine enge Beziehung zu unseren Kindern, wie himmlisch kann sie sein! In ihr, in dieser heiligen und vertrauensvollen Verbundenheit, liegt der stärkste Einfluss der Eltern auf das Kind. So können Eltern bis ins hohe Alter die besten Kameraden und Freunde ihrer Kinder sein.

Aus: Ella Eaton Kellogg, Studies in Characterbuilding, A.B. Publishing, 1999, S. 36-49. Erste Originalausgabe 1905. Gekürzt und redaktionell bearbeitet. 

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Ella Eaton Kellogg (1853-1920)

war die Frau des bekannten John Harvey Kellogg (Stichwort: Cornflakes) und gründete zusammen mit ihrem Mann verschiedene Gesundheitsorganisationen.