Unsere aussichtslose Lage
Ich wuchs in einer »christlichen« Familie auf. Meine Eltern wurden in Russland geboren. Sie gehörten zu einer Gruppe deutscher Mennoniten, die nach Russland ausgewandert waren. In Russland lernten sie den adventistischen Glauben kennen und schlossen sich dieser Gemeinschaft an. 1926 konnten sie von Russland nach Kanada ausreisen, wo ich kurz nach ihrer Ankunft geboren wurde. Mein Vater war Landwirt, und meine Mutter half ihm bei der Landarbeit.
Ich war das zweite von elf Kindern. Mein Vater erzog uns Kinder sehr streng zum Gehorsam gegenüber Gott und den Eltern. Er wollte, dass wir gehorsam waren, und wir Kinder wussten: Besser wir folgten ihm! Sonst würden wir die Folgen zu spüren bekommen.
Vater liebte uns Kinder sehr, aber er hatte auch eine große Schwäche: Er konnte sich selbst nicht beherrschen. Wenn irgendjemand von uns nicht kooperierte oder alles genau so machte, wie er es wollte, wurde er schnell ungeduldig und oft auch sehr wütend. Dann ließ er das an uns Kindern aus. Natürlich spürte er sein Versagen, und um eine Entschuldigung für sein Verhalten vorweisen zu können, beschuldigte er uns Kinder oder seine Ehefrau oder wer auch immer ihn erzürnt hatte.
Was ist Liebe?
Mein Vater liebte die Bibel. Er wäre fest für alles eingestanden, was er aus der Bibel verstand. Wenn nötig wäre er dafür sogar als Märtyrer gestorben. Aber hätte ihm das etwas genützt? Die Bibel sagt: »Wenn ich in Sprachen der Menschen und der Engel redete, aber keine Liebe hätte, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich Weissagung hätte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis, und wenn ich allen Glauben besäße, so dass ich Berge versetzte, aber keine Liebe hätte, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe austeilte und meinen Leib hingäbe, damit ich verbrannt würde, aber keine Liebe hätte, so nützte es mir nichts!« (Die Bibel, 1. Brief an die Korinther 13, 1-3) Ein Mensch mag nach außen noch so fromm erscheinen. Selbst Pfarrer und Prediger mögen auf der Kanzel stehen und Bibelstunden geben. Aber dann gehen sie nach Hause und streiten mit ihrer Familie und meinen dennoch, ein Kind Gottes zu sein. Aber so ist es nicht!
Meine eigene Liebesgeschichte
Ich war ein Kind, das gern gehorchte, und so gelang es mir, mit meinen Eltern gut auszukommen. Ich dachte, ich sei auf dem besten Weg zum Himmel. Gern half ich meinen Eltern mit all den Kindern und der ganzen Arbeit in der Landwirtschaft. Als ich eine junge Frau wurde, lernte ich meinen Mann kennen. Wir verliebten uns und heirateten, und bald schon wurde unsere erste Tochter geboren.
Doch nachdem ich verheiratet war und meine eigenen Kinder hatte, merkte ich, wie schwer Kindererziehung sein kann. Mein Ehemann und ich sahen die Dinge nicht immer in derselben Weise. Oft stritten wir darum, wie wir die Kinder erziehen sollten, und jeder bestand auf seiner Sicht. Ich meinte, ich wüsste mehr über Kindererziehung. Schließlich hatte ich immer auf alle meine jüngeren Brüder und Schwestern aufgepasst. Mein Mann hatte keine Erfahrung mit Kindern, und wenn er selbstsüchtig war oder schroff mit ihnen umging, nahm ich es ihm übel.
Immerzu versuchten wir, gute Eltern zu sein. Aber wenn die Kinder ungehorsam waren und wir ungeduldig und ärgerlich wurden, meinten wir – genauso wie mein Vater –, wir könnten den Kindern die Schuld dafür geben. Wir erkannten nicht, dass Gottes Liebe in unseren Herzen fehlte und dass wir uns lediglich auf unsere menschliche Liebe stützten. Gottes Liebe ist »langmütig und gütig«, »sucht nicht das Ihre«, »lässt sich nicht erbittern und rechnet das Böse nicht zu.« »Die Liebe freut sich nicht an der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles.« (1. Brief an die Korinther 13,4-7) Und so mussten unsere Kinder nicht nur ihre eigene Schuld tragen, wenn sie etwas falsch machten, sondern auch noch die Schuld von uns Eltern.
Ist das wirklich alles?
Meine Mann war Prediger. In den 1970ern arbeiteten wir als Missionare in Indien. Einmal kamen wir von unserem Missionseinsatz zurück nach Hause, und ich besuchte meine Eltern. Während meines Aufenthaltes bei ihnen brachten einige meiner Brüder und Schwestern, die auch zu Besuch kamen, ein Thema auf, das sie sehr beschäftigte: Wie kann mein Glaube wirklich echt sein? Wie kann ich als Christ nach Gottes Willen leben? Wie kann ich wirklich handeln und lieben wie ein Kind Gottes?
Einige von ihnen hatten das Thema eine Zeit lang studiert. Sie hatten mit meinem Vater darüber diskutiert und dabei einige Gedanken geäußert, die von seinem Verständnis über Erlösung und das Leben mit Gott abzuweichen schienen. Mit mir als Anwesende hoffte er, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich war die Frau eines Predigers! Ich war eine Missionarin! Ich würde die Antwort haben, meinte mein Vater.
Als dann meine Brüder und Schwester ihre neuen Einsichten beschrieben, fragte mich mein Vater: »Margaret, haben sie recht?« Jedes Mal war alles, was ich antworten konnte: »Vater, ich weiß es nicht.« Als die Diskussion andauerte, wurde mein Vater immer besorgter. War seine Hoffnung auf den Himmel auf Treibsand gebaut? Sein Glaube bestand schlichtweg darin: Glaube an Jesu, bemühe dich so gut wie möglich, gehorsam zu sein, dann wirst du nach und nach deine Sünden überwinden. Ist Heiligung nicht ohnehin ein Lebenswerk? Bedeckt nicht Jesus einfach unsere Sünden, solange wir versuchen, sie zu überwinden, wie viele es lehren?
Mein Vater hatte lange Zeit in seinem Leben versucht, seine Charaktersünden wie Groll, Ärger, Ungeduld, Streit und Lust zu überwinden. Das tat er in dem Glauben, dass Jesus ihm ja seine eigene Gerechtigkeit anrechnete, selbst wenn er noch wissentlich sündigte, also tat, was Gott nicht wollte. Nach dem Motto: Jesus lebte sündlos, und wenn ich an ihn glaube, sieht Gott mich, wie wenn ich nie gesündigt hätte und auch nie sündigen würde. Nun hörte er aber von der Notwendigkeit der Herzensreinigung. Er hörte, dass Gottes Kraft ihn vor dem Sündigen bewahren würde und dass Jesus kein weißes Mäntelchen um Sünden legt, die wir nicht bereuen und lassen wollen!
Im weiteren Verlauf der Diskussion war mein Vater nicht der Einzige, der unruhig wurde. Ich wurde es auch, denn ich musste zugeben, dass so eine vertrauensvolle, enge Beziehung zu Gott für mich ein neuer Gedanke war. Meine Religion war der meines Vaters sehr ähnlich. Bemühe dich, so gut wie möglich Gott zu gehorchen! Da meine Gewohnheitssünden im Vergleich zu seinen gering waren, schien ich ein vergleichsweise sündenfreies Leben zu führen.
Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt 78 Jahre alt und hatte ein Herzleiden, bei dem er jederzeit hätte sterben können. Er wusste, dass nur der Überwinder in den Himmel kommt, aber er überwand nicht! Er hatte noch einen 17-jährigen Jungen zu Hause, der zwölf Jahre nach den anderen Kindern geboren wurde und ihm das Leben schwerer machte als all die anderen zehn Kinder zusammen. Er erkannte sein Problem und rief verzweifelt: »Margaret, hilf mir!«
Als ich in die flehenden Augen meines Vaters blickte, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich einem Sünder nichts anzubieten hatte. Ich hätte sagen können: »Streng dich noch ein bisschen mehr an, Papa!« Aber er hatte sich doch schon sein ganzes Leben lang Mühe gegeben! In jenem Augenblick wusste ich, dass das nicht die richtige Antwort war. So sagte ich nichts.
Suchen und finden
Ich ging nach Hause, entschlossen etwas zu tun, um meinem Vater zu helfen. Ich begann, intensiv zu forschen, was es wirklich bedeutete, ein Christi zu sein. Ich hatte auch schon vorher täglich in der Bibel gelesen, aber nicht gewusst, wie ich es so tun kann, dass ich daraus die Kraft erhalte, als Christ zu leben. Doch nun ließ ich mir Zeit und dachte über jede Aussage sorgfältig nach und bezog sie auf mich selbst. Am Anfang war es langweilig, aber ich blieb dran, bis die Bibel allmählich Lebenswasser und Lebensbrot für mich wurde.
Als ich so studierte, fand ich Antworten. Zum ersten Mal erkannte ich, dass ich nur einen formalen Glaubens besessen hatte. Ich hatte keine Ahnung gehabt, was das Evangelium alles in meinem Leben bewirken konnte. Das Gesetz konnte ich nach außen scheinbar befolgen und mich äußerlich »christlich« verhalten. Aber ich wusste nicht, wie ich mein Denken und Fühlen Gott so hingeben konnte, dass Gott es durch seine Kraft lenken und verändern würde, so dass ich durch den Glauben befähigt werden konnte, Gottes Gebote zu halten sowie ihn und meine Mitmenschen wirklich zu lieben.
Als ich begann, meine Entdeckungen mit meinem Mann zu teilen, begann auch er zu forschen. Er war seit zwanzig Jahren Prediger, hatte aber auch nicht verstanden, wie tiefgreifend das Evangelium uns verändern kann. Als wir beide studierten und entdeckten, wie wir Gott täglich unsere Herzen hingeben konnten, wandelte sich unser Leben. Bald schon merkten unsere Kinder, dass im Leben ihrer Eltern tatsächlich etwas vor sich ging. Da sehnten auch sie sich nach dieser neuen geistlichen Erfahrung. Unser Sohn Arlen war dreiundzwanzig, unsere Tochter Cheryl einundzwanzig und verheiratet und unsere jüngste, Lorna, vierzehn.
Das Geheimnis der Liebe – ein neues Herz
Das menschliche Herz kann von sich aus nicht wirklich lieben. Denn von Natur aus wohnt Gottes Liebe nicht im Herzen. Das zeigt sich vor allem dann, wenn einem etwas gegen den Strich geht. So ging es auch Nikodemus in der Bibel:
»Unter den Pharisäern gab es einen Mann namens Nikodemus; er war ein Mitglied des Hohen Rates. Eines Nachts kam er zu Jesus: ›Rabbi‹, sagte er, ›wir wissen, dass Gott dich als Lehrer zu uns gesandt hat. Denn niemand kann die Wunder tun, die du vollbringst, wenn Gott sich nicht zu ihm stellt.‹ Darauf erwiderte Jesus: ›Ich versichere dir, Nikodemus: Wer nicht neu geboren wird, kann Gottes Reich nicht sehen und erleben.‹« (Johannes 3,3 HfA)
Nikodemus war ein strenger Pharisäer. Er war stolz auf seine guten Werke. Er hatte viel Geld zur Unterhaltung des Tempels gespendet und meinte, Gott wäre überaus zufrieden mit ihm. Nun sollte Gottes Reich zu rein für ihn sein und er zu schmutzig, um hineinzukommen? Er war doch schon von Geburt an Israelit! Sein Platz im Reich Gottes war ihm sicher! Veränderung? Brauchte er nicht!
»Verständnislos fragte der Pharisäer: ›Wie kann jemand neu geboren werden, wenn er schon alt ist? Er kann doch nicht wieder in den Mutterleib zurück und noch einmal auf die Welt kommen!‹ ›Ich versichere dir‹, entgegnete Jesus, ›nur wer durch Wasser und durch Gottes Geist neu geboren wird, kann in Gottes Reich kommen! Ein Mensch kann immer nur menschliches Leben hervorbringen. Wer aber durch Gottes Geist geboren wird, bekommt neues Leben. Wundere dich deshalb nicht, dass ich dir gesagt habe: ›Ihr müsst neu geboren werden.‹ Es ist damit wie beim Wind: Er weht, wo er will. Du hörst ihn, aber du kannst nicht erklären, woher er kommt und wohin er geht. So ist es auch mit der Geburt aus Gottes Geist.‹ Nikodemus ließ nicht locker: ›Aber wie soll das nur vor sich gehen?‹ Jesus erwiderte: ›Du bist ein anerkannter Gelehrter in Israel und verstehst das nicht?‹« (Johannes 3,4 10 HfA)
Auch ich hatte weder gewusst, was die Neugeburt ist, noch dass man sie braucht. Wie Nikodemus hatte ich mir Mühe gegeben, Gott zu gehorchen und ein guter Mensch zu sein. »Manchem scheint ein Weg recht; aber zuletzt bringt er ihn zum Tode.« (Sprüche 14,12)
Aber das Herz ist von Natur aus böse. »Du musst wissen, dass aus Unreinheit nichts Reines entsteht.« (Hiob 14,4) »Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung.« (Matthäus 15,19) Keine menschliche Erfindung kann den Menschen vor dem Sündigen bewahren.
Aber Gott sagt in der Bibel: »Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun.« (Hesekiel 36,26.27) Gott möchte uns seinen Geist schenken. Er möchte unser Herz mit seinen Gedanken und Gefühlen erfüllen. Diese Umgestaltung ist keine teilweise Veränderung oder Verbesserung unserer alten Natur. Das ganze Wesen wird völlig umgewandelt. Man stirbt sich selbst und der Sünde und lebt ein neues Leben.
Wenn wir wirklich von Sünde frei werden wollen, von Hass, Wut, Verbitterung, Unmut, Verärgerung, Ungeduld, Bitterkeit, Neid, Eifersucht, bösen Unterstellungen und Selbstsucht, wenn wir Jesus unser ganzes Leben und Denken anvertrauen, dann schenkt er uns ein neues Herz und füllt unsere Herzen mit seiner Liebe. »Das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.« (1. Brief des Johannes 1,7)