Will man die Welt verändern, braucht man drei Dinge: eine Vision, einen Charakter und ein Umfeld.
Eine Vision von einer besseren Welt, die auf universalen Grundsätzen frei von Fehlannahmen und Trugschlüssen beruht; einen Charakter, der den Mut und die Stärke besitzt, diese Vision mit »Feder und Griffel« ins Bewusstsein der Menschen zu schreiben; und ein Umfeld, eine Zeit, die es möglich macht, diese Vision Realität werden zu lassen.
Zum Beispiel Martin Luther. Seine Vision war »Sola Gratia« – Erlösung allein aus Gnade ohne Vorleistung. Er besaß den Mut, unter Lebensgefahr Papst und Kaiser entgegenzutreten und seine Vision klar, durchdringend und demütig vorzustellen. Doch nicht nur das; seine Zeit und sein Umfeld bahnten ihm den Weg: die griechische Ausgabe des Neuen Testaments von Erasmus von Rotterdam, der Geist des Humanismus, der Buchdruck Johannes Gutenbergs, Friedrich der Weise als sein Beschützer in Sachsen, aber auch die deutschen Fürsten, die bereit waren für den befreienden Geist des Evangeliums. Noch 100 Jahre zuvor war die Vision von Jan Hus scheinbar gescheitert und er selbst wurde in Konstanz auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Seine Vision war diesselbe und sein Charakter ehrenwert, aber die Zeit war nur bereit gewesen für die Saat, noch nicht für die Ernte.
Die Welt erwachte aus ihrem Jahrhunderteschlaf, als das wundersame Wort von Land zu Land hallte: ›Glaubensfreiheit‹.
Ellen White
Auch Roger Williams hatte eine Vision. Er besaß Charakter. Und die Vorsehung schenkte ihm die Möglichkeit, seine Vision in der »Neuen Welt« in die Praxis umzusetzen. Auch hier ging es um Freiheit – Freiheit von jenem »blutigen Prinzip«, das Abermillionen Menschen im Laufe der Weltgeschichte das Leben kostete: Freiheit des Gewissens.
Die Flucht
Januar 1636. Roger Williams flieht hinaus in die bitterkalte Winterlandschaft Massachusetts an der Nordostküste der heutigen USA. Bereits im Oktober hat das Gericht von Massachusetts beschlossen, dass »Roger Williams, ein Ältester aus der Gemeinde in Salem … die Gerichtsbarkeit von Massachusetts innerhalb von sechs Wochen zu verlassen habe.« Er habe öffentlich und ohne irgendein Anzeichen von Reue und Widerruf verschiedene neue und gefährliche Ansichten geäußert und verbreitet und die behördlichen und kirchlichen Autoritäten in Frage gestellt.
Natürlich, Williams ist alles andere als still und fügsam. Wäre er einfach still und zufrieden, ja würde er einfach nur ein frommes und anständiges, christliches Leben führen und nichts weiter sagen oder tun … Aber nein, er ist »stur, aufgeblasen, widerborstig, unverbesserlich, laut und lieblos«. Er bringt das ganze Gemeinwesen durcheinander!
Und so flüchtet er hinaus in den kalten Winter von Massachusetts. Wird er überleben? Wird er seine kleine Freeborn (drei Monate), seine kleine Mary (zweieinhalb Jahre) und seine Frau jemals wiedersehen? Im Vertrauen auf seinen fürsorglichen Vater im Himmel und getragen von einer Vision der Menschlichkeit, geschützt von hohlen Baumstämmen als Unterschlupf und der Dunkelheit der Nacht flieht Williams allein, und doch nicht allein, Richtung Süden dieses riesigen, unbekannten Landes. Vierzehn Wochen lang kennt er weder »Brot noch Bett«, weder Wärme noch Gemeinschaft.
Providence
Schließlich gelangt er an den Oberlauf der Narragansett-Bucht, baut dort Häuser zusammen mit einigen Nachbarn aus Salem und mit Genehmigung der Indianer (kein Patent von König Karl I.!), sät aus für eine mögliche Ernte noch kurz vor dem Winter und startet damit sein »lebendiges Experiment, dass ein überaus florierender Zivilstaat am besten erhalten wird … durch völlige Freiheit in religiösen Angelegenheiten« (Gründungsurkunde von Rhode Island aus dem Jahr 1663).
Er legt damit einen entscheidenden Meilenstein zur Verankerung von Gewissensfreiheit in der Verfassung der USA und lässt den Fluss der Geschichte weiter anschwellen in Richtung Recht und Freiheit für alle Menschen auf der ganzen Welt. »Providence«, so nennt er die Stadt »im Gedenken an Gottes barmherzige Vorsehung in meiner Not«.
Das mittelalterliche, europäische Modell der Verbindung von Kirche und Staat
Verfolgung aus Gewissensgründen war nichts Neues, und nicht erst Kaiser Konstantin schuf im 4. Jhd. n. Chr. jenes blutige Konstrukt aus Staat und Religion. Es verfolgte schon im alten Babylon, im antiken Rom, ja in allen Welt- und Großreichen des Altertums Menschen, die ihrem Gewissen treu waren.
Konstantin war aber derjenige, der durch seine Integrationspolitik den Weg für jenes »Heilige Römische Reich« bereitete: Einerseits verlieh er dem Christentum einen gleichwertigen Status zu allen anderen Religionen und machte damit der Verfolgung ein Ende. Andererseits bot er machthungrigen Klerikern und religiösen Eliten die Bühne dafür, ihre Ambitionen auf hoher Ebene auszuleben, politischen Einfluss zu erlangen und »Christliches« mit Staatlichem zu vermischen.
Am 27. Februar 380 unterzeichnete der oströmische Kaiser Theodosius I. (347 – 395) dann das Dekret »Cunctos populos«, mit dem er das Christentum zur Staatsreligion erklärte. Außerdem erließ er Gesetze gegen das Heidentum und insbesondere gegen abweichende christliche Glaubensüberzeugungen und förderte damit die Vormachtstellung einer bestimmten christlichen Elite. Jüdisch-christliche Wurzeln verbanden sich dabei mit der griechisch-römischen Antike und gingen eine bis heute wirkende Symbiose ein.
Doch das geschah nicht nur in Ostrom. Chlodwig I., der »neue Konstantin«, setzte mit der Erhebung des Katholizismus zur Staatsreligion und mit seiner Taufe im (umstrittenen) Jahr 508 n. Chr. der Verbindung aus Kirche und Staat auch für das Frankenreich die Krone auf. Er läutete damit jenes grausame Prinzip für Europa ein, das fast 1260 Jahre lang »die Hure und die Erde trunken gemacht hat mit dem Blut der Heiligen« (Roger Williams, siehe Offenbarung 17,6), jene Epoche, die wahrscheinlich allein in Europa mindestens 50 Millionen Menschen unter Verfolgung, Zwangsbekehrung, Folter und Gefängnis das Leben kostete.1
Reformation
Selbst das Licht der Reformation brachte diesem Blutvergießen kein Ende. Die Verfolgten wurden zu Verfolgern, und so trank die Erde des 16. und 17. Jahrhunderts weiter das Blut der Erschlagenen. Katholiken verbrannten Protestanten auf dem Scheiterhaufen, Protestanten warfen Katholiken ins Gefängnis und ließen sie dort schmachten und sterben. Ja, Protestanten verfolgten und töteten sogar Protestanten, und das alles im Namen Jesu.
Damals herrschte das Prinzip »Cuius regio, eius religio«: Wessen Gebiet, dessen Religion. Man glaubte, eine einheitliche Religion und Glaubenspraxis wären für die Sicherheit und den Frieden eines Landes unabdingbar. Wer einem anderen Glauben folgen wollte als dem des Landesherrn, wurde verbannt, gerädert, verbrannt, enthauptet oder starb an den Folgen einer anderen grausamen Folter.
Sebastian Castellio, selbst verfolgt von Katholiken und Protestanten, fragte einmal treffend: »Ist dieses ganze Blutvergießen wirklich von Gott? Und wenn ja, was bleibt dann eigentlich für den Teufel übrig?«
Die Täufer
Die Reformation spaltete den Glauben der Menschen und die politische VorgehensweisederRegierendenEuropasaber nicht nur in Katholiken und Protestanten. Im Durcheinander von Disputationen, Spaltungen und Kriegen tauchten im 16. Jahrhundert auch viele kleine Bewegungen auf – Störenfriede und Extremisten in den Augen der Protestanten, eine unausweichliche Folge kirchlicher Spaltung nach Meinung der Katholiken.
Aber weil sie keine politischen Schutzherren fanden, blieben sie teilweise im Dunkeln oder verschwanden sehr schnell wieder.
Zu ihnen gehörten auch die Täufer. Sie gründeten sich wie die Reformatoren auf eine sehr wortgetreue Auslegung der Heiligen Schrift, betonten die Notwendigkeit einer persönlichen, freiwilligen und unermüdlichen Hingabe an ihre christliche Berufung, die Absonderung von der Welt und, was ihnen den Namen Anabaptisten oder Wiedertäufer eintrug, die Taufe von entscheidungsfähigen Menschen statt Säuglingen. Auch wenn ein winziger, fanatischer und revolutionärer Zweig der eigentlich pazifistischen Täufer durch sein blutiges und polygames Vorgehen Münster zu einem Schimpfwort machte (statt zum Neuen Jerusalem), so findet man bei ihnen zum erstem Mal den Gedanken der Trennung von Kirche und Staat. Diesem Gedankengut folgte letztendlich auch Roger Williams.
England im 16. Jahrhundert
Jenseits des Ärmelkanals war das Leben ähnlich turbulent und die politische Stabilität ähnlich trügerisch. Der englische König Heinrich VIII. Tudor (1509-1547) setzte am 3. November 1534 im Parlament das Suprematsgesetz durch, mit dem er sich selbst zum »höchsten Oberhaupt der englischen Kirche« machte und damit England von der römischen Kirche trennte. Sein Sohn Edward VI. (1547-1553) – er war zu seiner Thronbesteigung gerade einmal 9 Jahre alt und regierte mit einem Regentschaftsrat – führte aufgrund seiner protestantischen Erziehung England dann im Eiltempo in einen rigoroseren Protestantismus. Und Maria Tudor (1553-1558), seine als »Bloody Mary« bekannte Schwester, lenkte nach seinem frühen Tod England unter viel Blutvergießen genauso schnell wieder zurück in den Katholizismus.
Ihre Nachfolgerin Elisabeth I., ebenfalls eine Schwester ihrer beiden Vorgänger, war dem Protestantismus zugewandt und schaffte es dann in ihrer fast 50-jährigen Herrschaft (1558-1603), das wilde Hakenschlagen zwischen politischen Loyalitäten und religiösen Empfindungen etwas auszugleichen, obwohl auch weiterhin katholische Priester getötet wurden. Auch reichte ihr Einfluss immer stärker in die Neue Welt hinein. In ihrer Zeit gründete England immer mehr Kolonien, unter ihr besiegte England die spanische Armada, das Land mutierte vom unbedeutenden Inselstaat zur aufkommenden Großmacht Europas. Mit ihrem äußerst harten Vorgehen gegen puritanische Bestrebungen, mit dem sie viele Gläubige zunehmend in den Untergrund drängte, verschärfte sie allerdings auch innerhalb der protestantischen Kirche die Gegensätze.
1603 kam der ebenfalls antikatholische Nachfolger Jakob I. (1566-1625) an die Herrschaft – in dem Jahr, in dem wahrscheinlich Roger Williams in London geboren wurde.
Roger Williams
Williams wuchs in einer mittelständischen Familie in London auf und besuchte die anglikanische Kirche. Noch bevor er zwanzig wurde, brach auf dem Kontinent der Dreißigjährige Krieg aus (1618). Schon in frühen Jahren »berührte der Vater des Lichts und der Barmherzigkeit seine Seele mit Seiner eigenen Liebe«, eine Formulierung, mit der Williams im Jahr 1673 sagen wollte, er habe die Liebe Gottes persönlich erlebt und in der eigenen Hingabe an seinen Erlöser Vergebung und wahres Leben gefunden – nicht aus Werken, sondern allein aus Gnade (Römer 3,23-24).
Für uns heute klingt das nahezu romantisch; damals war es eine folgenschwere Wahl. Denn es war die Religion und der persönliche Glaube, die darüber entschieden, wie man lebte, wo man lebte und selbst, ob man lebte, ob man in Oxford oder Cambridge studieren durfte oder verfolgt wurde.Williams studierte Recht und Theologie am Pembroke College, wurde um 1629 zum Priester der Kirche von England geweiht, wurde Kaplan in Essex und heiratete 1629 Mary Barnard. Sogar in seinem eigenen Pfarrbezirk mussten Männer und Frauen noch um ihres Glaubens willen sterben.
Die Anglikanische Kirche
Doch was war die Kirche von England bzw. die Anglikanische Kirche eigentlich und wie wurde sie gesehen? Die einen sagten, sie wäre ein Mittelweg gewesen, weder römisch-katholisch noch kontinental-protestantisch. Andere waren der Meinung, die Kirche von England habe nur ein politisches oder kosmetisches Facelifting erhalten, wäre aber in der Frömmigkeit, Liturgie und Lehre unverändert geblieben.
Einige Gläubige wünschten sich eine gründlichere Reformation in der Kirche von England, und diese wurden als die Puritaner bekannt.
Die Puritaner und Separatisten
Puritaner (vom engl. Wort »pure« = rein) lehnten (in der reformierten Tradition von Zwingli und Calvin) alle Formen der Religionsausübung ab, die sie nicht durch Gottes Wort in der Bibel begründet fanden. Im Gegensatz dazu erlaubte die anglikanische und lutherische Tradition alles, was die Bibel nicht ausdrücklich verbot. Puritaner legten großen Wert auf persönliche Bekehrung, eine persönliche religiöse Erfahrung und die Abkehr von allem Weltlichen. Sie hofften, die Kirche von innen heraus zu erneuern. Für den aus ihnen erwachsenden Zweig der Separatisten war die Kirche jedoch hoffnungslos verunreinigt, gänzlich treulos und eher antichristlich als christlich und Trennung die einzig richtige Entscheidung. Für beide Gruppen wurde die Lage in England immer schwieriger.
Zunehmende Verfolgung
1593 wurde unter Elisabeth I. ein Gesetz erlassen gegen alle Personen, die es wagten, die »Macht und Autorität der Majestät in kirchlichen Fragen zu bestreiten«. Wer den Gottesdienst nicht besuchte oder andere dazu verführte, wer das Abendmahl nicht so einnahm, wie von der Majestät festgelegt, oder wer sich in ungesetzlichen Versammlungen zusammenfand, wurde ins Gefängnis geworfen.
Ins verheißene Land
So traf man sich geheim oder wanderte nach Holland aus in der Hoffnung, eine gründliche Reformation würde irgendwann in der nahen Zukunft stattfinden. Leider hoffte man für die nächsten Jahre vergebens. Sollte man nun in Holland bleiben und seine englische Identität aufgeben? Oder sollte man zurückkehren und unter Umständen seine Integrität als Christ und Christin verlieren durch die Anpassung an ein verunreinigtes System? Wäre Treue zum eigenen Land Abkehr von Gott?
Diese separatistischen Puritaner, die später als »Pilger« bzw. »Pilgerväter« bezeichnet wurden, entkamen dieser inneren Zerreißprobe durch die Möglichkeit, wie Abraham in ein fernes Land zu ziehen, etwa 5000 km entfernt. 1620 segelte die Mayflower von England nach Massachusetts (statt wie geplant nach Virginia), und dort gründeten diese ersten englischen Pilger den Ort Plymouth. Wie im biblischen Buch der Offenbarung die Erde den Wasserstrom verschlang, den die Schlange bzw. der Drache gegen die Frau ausstieß (siehe Offenbarung 12), so verliefen alle Bemühungen, den Verfolgten des mittelalterlichen Europas das Leben schwer zu machen, in den Weiten der Neuen Welt schließlich im Sande. Sie hatte ihnen eine neue Heimat geschenkt.
Roger Williams in England
Auch für Roger Williams in England waren die Umstände nicht leicht. Obgleich Jakob I. einige Reformen umsetzte, blieb er doch bei einer harten Linie. 1625 bestieg sein Sohn Karl I. den Thron Englands und regierte ohne Rücksicht auf das Parlament und die Puritaner. Für Separatisten, die bis dahin nicht geflohen waren, aber auch für loyale Kirchgänger, die sich nach einer wahren Reformation sehnten, wurden die Aussichten unter der zunehmenden Verfolgung immer düsterer.
Land in Neuengland
1620 hatte der König dem »Konzil für Neuengland« – einer englischen Aktiengesellschaft mit dem Auftrag der Kolonialisierung Neuenglands – Land zur Verfügung gestellt an der Ostküste der heutigen USA. Ziel war es, eine monolithische, aristokratische, anglikanische Provinz entstehen zu lassen, die nach englischem Landrecht organisiert war. Dieser Plan scheiterte: Die »Plymouth Colony« und die »Massachusetts Colony« führten das Unternehmen fort und verwandelten das Gebiet entgegen den Vorstellungen in einen Flickenteppich kleiner unabhängiger, mittelgroßer puritanischer und separatistischer Kolonien.
John Winthrop und Roger Williams suchen Heimat in Massachusetts
John Winthrop, ein frommer, puritanischer Anwalt und Gouverneur der »Massachusetts Bay Company«, einem Ableger des Konzils für Neuengland, machte sich 1630 mit einer großen Gruppe Puritaner auf den Weg nach Neuengland, um dort ein neues Leben zu beginnen. Der Winter war hart und viele von ihnen starben.
Bereits im Februar 1631 legte ein weiteres Schiff, die »Lyon«, in der Natasket-Bucht an. John Winthrop und seine unterernährte, zu wenig bekleidete Gruppe empfing das Schiff, die Crew und die Passagiere mit großer Freude. Unter ihnen waren Roger Williams, ein »frommer Prediger«, und seine Frau Maria.
Weder Winthrop noch Williams ahnten zu diesem Zeitpunkt, dass eine lebenslange, besondere Beziehung sie verbinden würde. Sie würden sich wertschätzen und in vielen Fragen unterstützen (wie zum Bespiel bei der Vermittlung mit den Indianern), aber auch heftig verbal aneinandergeraten.
Roger Williams und die Puritaner
Nach ihrer Ankunft machten Roger und Maria Williams sich auf den Weg nach Boston. Williams wurde eingeladen, dort als Bezirksprediger zu dienen. Aber sein ausgeprägtes Gewissen war zu der Überzeugung gelangt, die Puritaner müssten sich von der anglikanischen Kirche trennen und jede Verbindung zu ihr kappen, und zwar sofort und unmissverständlich! Denn die anglikanische Kirche sei keine »wahre Kirche«. Das aber sahen die Puritaner anders. Auch wenn die Kirche für sie beschmutzt und erneuerungsbedürftig war, so wäre eine Abspaltung in ihren Augen Sünde gewesen.
Aber es gab da noch einen anderen Grund: Die Puritaner hatten ihr Land von König Karl erhalten. Eine offene Trennung von der Kirche von England oder allein schon der Anschein hätte sie in England in Verruf bringen und zu Schwierigkeiten führen können. Und so waren sie bereit, einiges an Unreinheit in der Kirche zu dulden, auf jeden Fall mehr als Williams. Dieser Mittelweg war aber untragbar für Roger Williams, und so lehnte er das Angebot von Boston ab.
Dem Angebot der separatistischen Kirche in Salem konnte Williams dann zustimmen. Dieses wurde aber auf einen Einspruch von Boston hin wieder zurückgezogen. Die Bostoner hatten nämlich zu Recht angemerkt, Williams würde das Recht der Behörden, religiöse Forderungen durchzusetzen, in Frage stellen.
Daher zogen Roger und Maria im August 1631 noch einmal um in die südwestlich gelegene Kolonie Plymouth – die Kolonie der separatistischen Pilgerväter. Dort brachte Maria im August 1633 ihr erstes Kind zur Welt. Roger arbeitete als Assistent des Ortspfarrers, begann einen langen und sensiblen Austausch mit den Nachbar-Indianern und dachte weiter über die Kirche und ihre Beziehung zum Staat nach.
Und das ließ ihn nicht ruhig und untätig bleiben.
So kam es wieder zu Auseinandersetzungen zwischen ihm und der Kirche. Schließlich entschied sich Williams 1633, nach Salem und damit in die Gerichtsbarkeit von Massachusetts zurückzukehren, um sich dann dort erneut mit den Behörden anzulegen.
»Wie so viele Einwanderer in die Neue Welt überquerten auch die Puritaner den Nordatlantik mit dem Ziel der Freiheit. Aber die Freiheit, die sie suchten, war Zweck, nicht Ziel, Freiheit für etwas sehr Spezifisches statt Freiheit für verschiedenartige Individuen, die ihrem eigenen Verständnis des Guten folgen wollten.«
TIMOTHY HALL
Williams Flucht
Die Auseinandersetzung wurde immer intensiver, und so entschied das Gericht in Salem im Juli 1635, Williams müsse aus seinem geistlichen Amt enthoben werden. Im Oktober wurde ihm eine Frist von sechs Wochen gestellt, um Massachusetts zu verlassen, denn er hatte »neue und gefährliche Meinungen« verbreitet! Was sollte er tun? Bleiben? Damit die Behörden ihn zurück nach England verschifften oder gleich ins Gefängnis steckten? Fliehen? In die Ungewissheit eines riesigen Landes?
Was hatte er gesagt, was ein so schweres Urteil nach sich zog?
Williams Vision
Williams ging es um drei Dinge:
1. Die Kirche war ihm nicht rein und Zeremonien und Klerus nicht protestantisch genug. Er wollte eine konsequente Trennung von der Kirche von England. Aber das war nicht der eigentliche Grund für seine Verbannung.
2. Sein schlimmstes Verbrechen bestand darin, dass er König Karl das Recht absprach, Patente auf das ganze Land zu vergeben. Kein Wort dabei von den Indianern.
3. Und was nicht weniger schlimm war: Williams wollte eine rigorose Trennung von Kirche und Staat.
Staat und Kirche bei den Puritanern
Kirche und Staat trennen? Niemals! Für Puritaner waren Staat und Kirche wie siamesische Zwillinge, die miteinander »aufwachsen, weinen, erkranken und sterben«2. Sie waren zwar separate, eigenständige, aber dennoch eng miteinander verbundene Einheiten. Fast wie ein Haus, in dem die Kirche die Präsidentensuite besetzt. Der Staat war dazu da, die Suite » sauber und gemütlich und den Garten unkrautfrei zu halten. Er sollte für Frieden und Ordnung sorgen, indem er abweichende Glaubensüberzeugungen überwacht und bestraft. Denn zivilen Frieden und politische Stabilität könne man nur durch einheitliche religiöse Ansichten und Glaubenspraktiken erreichen.
Die Puritaner sahen sich als »Gottes besonderes Volk«, »die Stadt auf dem Berg«, die allen Menschen leuchten sollte. Gott selbst habe sie in die Neue Welt gebracht, ihnen wie dem alten Israel Gesetze gegeben und die Behörden beauftragt, seine ungehorsamen Schäfchen wieder auf den rechten Weg zu bringen.
Um die Gemeinschaft zu schützen, war es also notwendig, religiöse Abweichungen zu ahnden – nicht nur allein um des Übeltäters willen, sondern weil er mit seinen öffentlichen Äußerungen auch andere anstecken und damit Gottes Gerichte über sie bringen könne in Form von Unwetter, Seuchen, Krieg und anderen Katastrophen. Verbannung, Gefängnisstrafe sowie das Abschlagen von Ohren und Zungen waren gängige Praktiken der Friedenssicherung.
»Williams bekämpfte lautstark die Vorstellungen, aufgrund derer die Ohren von Phillip Ratcliff (Verfolgter in Massachusetts) verstümmelt und die Quäker mit dem Strick gehängt wurden; er nahm den gesellschaftlichen Trugschluss der Puritaner auseinander und erklärte ihn für ungültig.«
EDWIN S. GAUSTAD
Williams kontert
Williams trat dieser puritanischen Logik öffentlich und scharf entgegen. Er sah darin nicht etwa bösen Willen oder falsch gelenkte Empfindungen, sondern schlicht und ergreifend: einen Trugschluss! Und weil für ihn dieser Kampf um Glaubensfreiheit zu allererst im Kopf stattfand, dort, wo Ideen und Vorstellungen miteinander um den ersten Platz stritten, begann er seine Argumentation direkt bei den falschen Prämissen:
Kein Sonderstatus
Zuallererst sprach Williams den Puritanern das Recht ab, sich als Gottes auserwähltes Volk mit einem zivilen Sonderstatus zu sehen. Seit Jesu Kommen und der Verbreitung des Evangeliums an alle Menschen könne keine Nation auf Erden mehr einen bevorzugten Status von Gott für sich selbst in Anspruch nehmen und religiöse Gesetze durchsetzen. Auch nicht die Puritaner.
Williams und das göttliche Gesetz
Williams glaubte wie die Puritaner an die Verbindlichkeit von Gottes Wort – einschließlich der Zehn Gebote – aber er glaubte nicht, dass der Staat von Gott das Recht und die Pflicht erhalten habe, die Gesetze auf der ersten Bundestafel zu überwachen; denn diese beträfen allein das Gewissen des Menschen.
Gott hatte dem Volk Israel nach ihrem Auszug aus Ägypten auf dem Berg Sinai Zehn Gebote auf zwei Gesetzestafeln gegeben:
Die ersten vier Gebote auf der ersten Tafel betreffen den Bereich der Anbetung. Sie regeln den Umgang des Menschen mit Gott selbst, seinem Schöpfer.
Laut Williams hat weder der Sheriff noch die Politik, weder eine zivile Gesellschaft oder eine politische Ordnung das Recht, in dieses Verhältnis einzugreifen, sei es bei Juden, Christen, Moslems oder Andersgläubigen, und das weder im alten noch im neuen England noch irgendwo sonst auf der Welt. Deshalb dürfe weder die Kirche den Staat zu Hilfe ziehen, um geistliche Dinge zu klären, noch dürfe der Staat in Gewissensfragen eingreifen.
Die zweite Gesetzestafel betrifft zivile Dinge, und weil Gott den Staat eingesetzt hat (Daniel 2,21), hat er ihn, so Williams, auch beauftragt, diese sechs Gebote zu überwachen und durch sie zivilen Frieden zu sichern.
In dieser und nur in dieser Zuständigkeit könne der Mensch »dem Kaiser geben, was dem Kaiser gehört, und Gott was Gott gehört« (Matthäus 22,21).
Gewissensfreiheit als ein Menschenrecht
Anders als die Puritaner verstand Williams Gewissensfreiheit als ein durch die Schöpfung von Gott in den Menschen hineingelegtes, unveräußerliches Recht, als ein Menschenrecht – nicht nur, weil man es durch Gewalt nicht nehmen könne, sondern weil ein Mensch dieses Recht, das Gott gehört, nicht abgeben kann.
Das Gewissen verstand er als die Instanz, mit der der Mensch mit Gott kommuniziert, und deshalb war er mit seinem Gewissen einer höheren Macht verpflichtet als lediglich irdischen, staatlichen Behörden.
Gewissensfreiheit war für Williams die Freiheit, einer anderen Macht untertan zu sein als der des Kaisers, nämlich Gottes Herrschaft. Gewissensfreiheit schützte einen Menschen also vor dem Dilemma, wählen zu müssen zwischen zwei Herrschaften, dem Staat (unter Androhung irdischer Strafen) oder Gott (mit ewigen Folgen).
Und dieses Recht, dieses Menschenrecht, galt für Williams, anders als bei den Puritanern, nicht nur für Glaubenskonforme, sondern für jeden Menschen, sei er Protestant, Katholik, Jude, Moslem, Indianer, Angehöriger irgendeines anderen Glaubens oder Ungläubiger. Denn wer mag beurteilen, wer wahrhaft gläubig ist?
»Als die Pilgerväter und Puritaner nach Amerika kamen, suchten sie Religionsfreiheit für sich selbst.
Als Roger Williams nach Amerika kam, suchte er Gewissensfreiheit für alle: Protestanten, Katholiken, Juden, Moslems, Ungläubige und Heiden.«
HTTPS://DE.WIKIPEDIA.ORG/WIKI/ ROGER_WILLIAMS
Jedem das Seine
Nach Williams wäre es von Gott auch wirklich nicht weise gewesen, dem Staat religiöse Verantwortung zu geben. Denn für Williams war die Welt »unerneuert und verloren«. Die Geschichte zeigte, dass Staat und Behörden nicht fähig waren, über geistliche Dinge zu urteilen, denn sie verstanden sie nicht. Würde Gott jemand die Fürsorge für seine Schafe anvertrauen, der gar nicht Schafe hüten konnte und sich mit der Schäferei nicht auskannte? Der Staat sei nicht »meines Bruders Hüter«.
Das Verhältnis von Staat und Kirche
Für Williams sollten Staat und Kirche getrennt sein mit einer »hohen und unüberwindlichen Mauer«, eine Formulierung, die später auch Thomas Jefferson verwendete. Er sah sie nicht wie siamesische Zwillinge, sondern für ihn war die Kirche oder Versammlung der Gläubigen (ob wahre oder falsche) wie »eine Gruppe von Ärzten oder irgendeine Gesellschaft oder ein Unternehmen in einer Stadt«. Ginge eine Kirche unter, brauche das die Stadt nicht zu stören, denn das würde ihre Existenz nicht bedrohen.
Schutz vor Staat und Kirche
Dabei ging es Williams nicht nur um den Schutz der Gläubigen vor dem Staat, sondern auch um den Schutz des Staates vor der Kirche. Er verstand es als mangelnden Respekt gegenüber dem Staat, wenn die Kirche sich Rechte anmaßte, die Gott den Zivilbehörden zugedacht hatte. Genauso wenig dürfe der Klerus staatliche Mittel erhalten, sich damit bereichern und auf diesem Weg seine eigenen Leute zu Zivilbeamten machen.
Auch jede religiöse Prüfung für ein öffentliches Amt oder ein ziviles Recht, wie z.B. ein religiöser Eid vor Gericht, greife laut Williams in Gewissensfragen wie auch in staatliche Angelegenheiten ein.
Verfolgung
Fünfzig Jahre lang stritt Williams für eine Trennung von Kirche und Staat und für die Gewissensfreiheit. Verfolgung sei »das Messer, das die Adern der Könige und Königreiche, der Heiligen und der Sünder aufritzte und die Ströme und Flüsse mit deren Blut füllte.«(3) Sie raube der Welt den Frieden.
Die Puritaner meinten, Verfolgung bringe doch wenigstens irgendetwas Gutes, und deshalb sei sie gerechtfertigt. Williams war anderer Meinung: Verfolgung bringe gar nichts, denn sie unterschätze, wie hartnäckig ein abweichendes religiöses Gewissen sein kann. Die Verbindung aus Kirche und Staat führe nur zu Blutvergießen, Meuterei und Heuchelei, denn ein überzeugtes Gewissen, so falsch es auch liegen mag, kann man nicht so leicht zu etwas zwingen.
Dem Gewissen Gewalt anzutun, verglich Williams mit seelischer und geistlicher Vergewaltigung. Verfolgung, so Williams, widerspräche jedem menschlichen und menschenwürdigen Verhalten und stünde dem Charakter und »der Lehre Jesu, des Friedensfürsten, ganz offensichtlich und bedauernswert entgegen«. (4)
Williams Thesen zur Gewissensfreiheit
1. Kein Mensch darf betraft werden, weil er nicht zur Kirche kommt, eine andere Glaubenszusammenkunft aufsucht oder eine andere Glaubenspraxis für gut heißt.
2. Keine Behörde darf einen Menschen davon abhalten, einen Gott oder Götter anzubeten, die nach seinem Gewissen anbetungswürdig sind.
3. Keine Behörde darf einen Menschen zu etwas zwingen, von dem sein Gewissen nicht überzeugt ist, sei es ein religiöser öffentlicher oder privater Eid, ein Gebet oder sonst etwas.
4. Keinem Menschen dürfen zivile Rechte aufgrund seines Glaubens entzogen werden.
5. Kein Mensch darf gezwungen werden, eine Kirche oder Religion, an die er nicht glaubt, finanziell zu unterstützen.
6. Keine Kirche darf Andersdenkende mit dem Schwert des Staates verfolgen, mit Verbannung, Folter oder Tod, um sie zum rechten Glauben zu bringen.
7. Keine Kirche darf staatliche Gelder in irgendeiner Form erhalten.
8. Somit kann es keine »Staatskirche« geben, denn sie ist per Definition immer politisch.
Geistliche Artillerie
Doch auch wenn man einem Gewissen nicht Gewalt antun darf, so dürfe man es doch überzeugen. Und diese Artillerie des Glaubens – Predigt, Überzeugung und Gebet – nutzte Williams sein Leben lang sehr intensiv, sei es gegenüber John Cotton, John Winthrop oder den Quäkern.
Die Schwierigkeiten gehen weiter
Mit der Gründung der Kolonie waren die Schwierigkeiten aber noch lange nicht zu Ende. Nun galt es, die Vision in die Praxis umzusetzen. Doch dazu brauchte Williams eine Gründungsurkunde von König Karl bzw. dem Parlament, die besagt, dass Rhode Island, bestehend aus fünf Städten in derselben Gerichtsbarkeit (Providence, Warwick, Portsmouth, Newport, Pawtucket), den Status einer englischen Kolonie besitzt. Damit wäre Rhode Island vor der Einflussnahme angrenzender Kolonien sicher.
Zurück nach England
Der Zeitpunkt schien ungünstig. Als Williams 1643 London erreichte, war König Karl aus London geflohen, und die Anhänger des puritanischen Parlaments (die Roundheads) mit der Armee Oliver Cromwells standen seit einem Jahr im Krieg mit den Streitkräften eines angeschlagenen Königtums, den Cavaliers oder Royalists. So entschied die Mehrheit des Parlaments im Juni 1643, dass es keinen König mehr geben sollte. Ein halbes Jahr lang wurde nun damit verbracht, eine neue und annehmbare Form der Kirchenleitung für die englische Kirche zu finden. Nichts war stabil, nichts sicher. Aber auf jeden Fall konnte man davon ausgehen, dass sich zu diesem Zeitpunkt niemand für eine entfernte Kolonie in Neuengland interessieren würde. Das Anliegen müsste schlichtweg warten.
Aber Williams hatte gute, alte und vor allem einflussreiche Freunde in England. Mit ihnen wagte es Williams Anfang 1644, eine Petition um eine Gründungsurkunde einzubringen. Gleichzeitig verschaffte ihm eine andere Sache unerwartet einen breiten Eingang in die politischen Kreise der Gesellschaft: sein kürzlich erschienenes Buch »A Key into the Language of America« (»Ein Schlüssel zur Sprache Amerikas«, London 1643). Alles über amerikanische Indianer war für Engländer zu dieser Zeit faszinierend, vor allem weil fast 30 Jahre zuvor die Häuptlingstochter Pocahontas vom König willkommen geheißen wurde. Mit seinem Buch konnte Williams Informationen vermitteln, die über politische und religiöse Unterschiede hinausgingen und die Herzen der Menschen erreichten. Er war »in aller Munde«.
Angekommen in der Freiheit
Im März 1644, im selben Jahr, in dem Williams auch sein Buch »The Bloudy Tenent of Persecution, for Cause of Conscience« (»Das blutige Prinzip der Verfolgung aus Gewissensgründen«) herausbrachte, stimmten die Bevollmächtigten in Sachen »Providence Plantations« ab, und Williams gewann die Wahl mit einem Vorsprung von zwei Stimmen. 1663 bestätigte König Karl II., Nachfolger von Karl I., sie dann sogar noch einmal schriftlich mit folgendem erstaunlichen Wortlaut:
»Es ist unser königlicher Wille und Wunsch, dass niemand in der besagten Kolonie zu irgendeiner Zeit von nun an wegen anderer Meinung in religiösen Angelegenheiten, die den öffentlichen Frieden in unserer besagten Kolonie nicht stört oder belästigt, bestraft, zum Schweigen gebracht oder in Frage gestellt werden darf. Jeder darf von nun an frei und umfassend seine eigene Meinung haben und seinem eigenen Gewissen in religiösen Angelegenheiten folgen.«
Die erste Kolonie mit Gewissensfreiheit war geboren.
Gewissensfreiheit und zivile Verpflichtungen
Dass es allerdings nicht einfach war, eine Kolonie zu führen, die als einzige Gewissensfreiheit garantierte und damit alle anzog, die an anderen Orten zu Recht oder Unrecht unerwünscht waren, steht außer Frage. Fragen kamen auf, die man sich vorher so konkret nicht gestellt hatte. Welche Bereiche betrafen nun genau Gewissensfragen und welche zivile Angelegenheiten? Wie stand es mit all den unabsichtlichen Kollisionen zwischen Gesetz und religiöser Praxis? Waren Menschenopfer, wie es die Indianer praktizierten, erlaubt, wo darin doch religiöse Beweggründe impliziert waren? War die Beschneidung von Säuglingen Körperverletzung, auch wenn darin nichts Gewalttätiges zu finden war? Durfte ein Mann eine Frau schlagen, um sie zur »christlichen Unterordnung« zu bringen?
So sehr Williams in Massachusetts um Gewissensfreiheit kämpfte, so sehr kämpfte er in Rhode Island um die Wahrung ziviler Ordnung. Für Williams war klar, was man eindeutig von einem Zivilbürger von Rhode Island erwarten durfte: moralisches Handeln, die Unversehrtheit von Gütern und Personen sowie positive Beiträge zur Gemeinschaft wie Steuern und eine Beteiligung an der Verteidigung des Gemeinwesens.
Viele Schiffe fahren zur See mit Hunderten von Menschen an Bord, die Freud und Leid miteinander teilen. So sieht das Gemeinwesen aus oder eine menschliche Verbindung oder Gesellschaft. Es mag vorkommen, dass Katholiken und Protestanten, Juden und Moslems gemeinsam auf einem Schiff sind. Für mich hängt die Gewissensfreiheit, für die ich immer eingestanden bin, nun an zwei
Seilen:1. Weder Katholiken, Protestanten, Juden noch Moslems dürfen gezwungen werden, am öffentlichen Gebet oder Schiffs- gottesdienst teilzunehmen. Und
2. Man darf ihnen ihre eigenen Gebete und Gottesdienste nicht verwehren, wenn sie diese durchführen möchten. Trotz dieser Freiheit – und das habe ich nie abgestritten – gibt der Kapitän des Schiffes den Kurs vor. Und ich bin auch der Meinung, dass man sich gerecht, friedvoll und besonnen verhalten soll, die Schiffsleute wie auch die Passagiere.
Sollte irgendjemand sich weigern, seinen Dienst zu leisten oder seine Frachtkosten zu bezahlen, die Unterhaltung oder Verteidigung des Gemeinwesens persönlich und finanziell zu unterstützen, sich an die allgemeinen Gesetze und Ordnungen des Schiffes zu halten, die den all- gemeinen Frieden und Erhalt betreffen, sollte irgendjemand gegen den Kapitän und die Schiffsleute meutern oder sich gegen sie erheben und sollte irgendjemand schreiben oder predigen, dass es weder Kapitän noch Mannschaft geben darf, weil wir in Christus alle gleich sind – also kein Meister, kein Beamter, kein Gesetz, keine Ordnung, keine Korrektur und keine Bestrafung –, so sage ich und habe es niemals bestritten, sollte der Kapitän oder die Kapitäne den Übertreter verurteilen, ihm widerstehen, Zwangsmaßnahmen einleiten und ihn bestrafen entsprechend seiner Abweichungen und Handlungen.«(6)
Rhode Island und der 1. Zusatzartikel
Der Gründungsurkunde von 1663 folgten weitere Übereinkünfte und Gründungsurkunden mit fast demselben Inhalt, wenn nicht sogar Wortlaut, in anderen Kolonien: New Jersey, Carolina, Pennsylvania … selbst wenn die Worte der Gründungsurkunde oft treuer kopiert wurden als die Realität, für die Williams einstand. Aber die westliche Welt bewegte sich immer weiter weg von der Verfolgung Andersdenkender.
John Locke gab der ganzen Entwicklung dann nochmals einen Auftrieb, und am Ende des 17. Jahrhunderts waren die gefürchteten Ideen Williams schon gar nicht mehr so gefürchtet. Sie flossen neben dem Wirken von Thomas Jefferson und James Madison ein in die Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787/88 als einem Monument und einer Beschreibung bürgerlicher und religiöser Freiheit, wie es sie vorher und nachher nicht gab:
»Der Kongress soll kein Gesetz erlassen, das eine Religion zur Staatsreligion macht oder deren freie Ausübung beschränkt.« (1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika)
So wurde nicht nur Rhode Island, sondern schließlich die gesamte USA ein »lebendiges Experiment« von Religionsfreiheit. Die Offenbarung der Bibel stellt sie als ein Lamm dar, das aus der Erde aufsteigt (Offenbarung 13,11) – eine friedliche Nation, die Gewissensfreiheit im bisher umfassendsten Sinn gewährleistet.
Rhode Island und die ganze Welt
Als der Gerichtshof von Massachusetts 1635 seine historische Entscheidung traf, dass Williams die Kolonie zu verlassen habe, meinte John Cotton – neben John Winthrop einer der einflussreichsten Würdenträger der Massachusetts-Kolonie und Williams’ langjähriger Kontrahent –, Williams werde ja nicht wirklich verbannt, sondern sein Gebiet würde nun auf das gesamte Land ringsherum ausgeweitet. Er ahnte nicht, wie sehr sich dieser Satz einmal bewahrheiten würde. Nicht nur Neuengland, England und die USA würden von seinen Gedanken profitieren. Sie leuchteten hinaus in die ganze Welt.
Und heute?
Warum ist das alles so wichtig für uns heute? Warum ein Artikel über Roger Williams? Ganz einfach. Damit wir nicht vergessen.
Wir verbinden unsere Freiheitsrechte heute in erster Linie mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Selbst in Amerika ist nur Wenigen bewusst, dass die Wurzeln ihrer Demokratie und Gewissensfreiheit auf eine konkrete protestantisch-ethische Tradition zurückgehen: auf das Denken und den Einsatz vornehmlich der Täufer, Puritaner und Baptisten. Sie wurden als gesellschaftsfeindlich eingestuft und waren teilweise selbst noch in alten Denkstrukturen verfangen. Dennoch führte ihr zunehmender Strom an freiheitlichen Gedanken und Prinzipien zu einer Freiheit, wie man sie vorher nicht kannte, und ließ diese Freiheit aus Amerika in die Welt hineinleuchten.
Die Welt hat sich weitergedreht. Wo stehen wir heute? Wie konsequent wurden diese Freiheiten von den Ländern der Welt übernommen? Wird Gewissensfreiheit oder nur Gewissenstoleranz gewährt, wenn überhaupt? Sterben heute immer noch Menschen um ihres Glaubens willen? Werden Menschen immer noch Opfer von Diskriminierung, Zwangskonversion, Vertreibung, Vergewaltigung, Folter, Mord oder auch nur Benachteiligung?
Und wie steht es in unserem eigenen Land? Wie steht es mit Menschen, die sich friedlich und gesellschaftsfördernd verhalten, aber die Torah, den Koran oder die Bibel ernster nehmen als andere? Erhalten sie dieselben Ausbildungschancen und Arbeitsplätze wie andere, auch wenn sie den Sabbat halten, eine Burka tragen oder zu gewissen Zeiten beten? Werden sie geschützt vor mündlicher Diffamierung, wirtschaftlicher Benachteiligung oder praktischer Ausgrenzung? Haben sie in der Praxis umsetzbare Ausweichmöglichkeiten, wenn sie für ihre Kinder in der Schule keine frühe, ideologisch gefärbte Sexualkunde wollen?
Selbstregierung und Selbsterhalt sind eng miteinander verbunden. Erhalten Kirchen immer noch staatliche Gelder und Vergünstigungen? Haben ihre Pastoren einen Beamtenstatus?
1998 weihte die Roger-Williams-Universität in Bristol, Rhode Island, dem Gründer von Rhode Island eine neue Bronzestatue. Im selben Jahre erließ der U.S. Kongress das »International Religious Freedom Act«, dass die USA zum erklärten Wächter religiöser Freiheit in der ganzen Welt machte. Wie sehr setzt man sich heute ein für Religionsfreiheit in der ganzen Welt? Und mit welchen Mitteln tut man es?
Religionsfreiheit führte zu allgemeiner Freiheit und garantiert in einem Staat alle anderen Freiheitsrechte. Wie präsent ist die Geschichte noch in unseren
Köpfen und wie verwurzelt in unseren Herzen? Auf dass wir sie nie vergessen?
Der Apfelbaum
Luther soll einmal gesagt haben: »Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen«. Als Williams 1682 starb – das exakte Datum ist wie sein Geburtstag unbekannt – wurde er im Garten hinter seinem Haus begraben, das später im sogenannten King-Philips-Krieg niedergebrannt wurde. Wo man sein Grab vermutet, fand man später die Wurzel eines Apfelbaumes – eine Kuriosität der Geschichte, die noch heute von der Historischen Gesellschaft im John-Brown-Haus aufbewahrt wird.
Literatur:
Edwin S. Gaustad. Liberty of Conscience. Roger Williams in America, Judson Press 1999.
Timothy L. Hall, Separating Church and State. Roger Williams and Religious Liberty, University of Illinois Press 1998.
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