Vor ein paar Jahren machten wir mit Freunden eine Wanderung in den Alpen. Wir waren mehrere Tage mit schweren Rucksäcken unterwegs und übernachteten im Freien. Nach drei Tagen kamen wir völlig erschöpft in einem Dorf an der französisch-italienischen Grenze an. Wir waren drei Tagesmärsche von unserem Auto entfernt und mussten nun wieder dorthin zurück. Mit einem Bus fuhren wir ins nächstgelegene Städtchen zum Bahnhof. Dort wollten wir einen Zug nehmen und ein paar Städtchen weiter zu einem zweiten Bus fahren, der uns dann letztendlich zu unserem Auto zurückbringen würde.
Doch als wir am Bahnhof ankamen, bemerkten wir mit Entsetzen: Der Zug, den wir nehmen wollten, hatte Verspätung! Er hatte so viel Verspätung, dass wir unseren Anschlussbus verpassen würden. Was sollten wir tun? Es wäre unsere einzige Möglichkeit gewesen, den letzten Bus zu bekommen. Wir gingen zum Schalter am Bahnhof. Die Frau dort sagte uns, dass in wenigen Minuten ein TGV hier durchfahren würde. Er könnte uns in die nächste Stadt mitnehmen. Kennt ihr diesen französischen Hochgeschwindigkeitszug? Er würde für die Strecke nur etwa 10 Minuten brauchen. Wir waren alle erleichtert und warteten am Bahnsteig auf die Ankunft des Zuges.
Es dauerte nicht lange, da fuhr der lange, metallisch glänzende Zug auch schon ein. Die Türen öffneten sich automatisch und einige Menschen stiegen aus. Wir sahen den Bahnsteig entlang und hielten Ausschau nach einem Schaffner, bei dem wir die Fahrkarten kaufen könnten. Endlich sahen wir einen jungen Mann in Schaffneruniform aus einer Tür in unserer Nähe aussteigen. Wir rannten zu ihm und fragten ihn auf Französisch, ob wir bei ihm Fahrkarten in die nächste Stadt lösen könnten. Er runzelte beunruhigt die Stirn und sagte uns, dass die kurze zehnminütige Fahrt für uns sechs insgesamt über 250 Euro kosten würde. Jetzt waren auch wir geschockt. So teuer? Wir schickten stille Stoßgebete zum Himmel empor. Besorgt fragte der Schaffner: »Gibt es denn keine andere Möglichkeit für Sie in die nächste Stadt zu kommen?« Wir erklärten dem Schaffner unsere Situation und dass wir unbedingt den letzten Bus erreichen mussten. Er schaute nachdenklich.
So viel Geld konnten wir nicht zahlen, und so entschieden wir, dass nur einer von uns mitfahren könnte und das Auto holen sollte. Das würde allerdings bedeuten, dass wir noch einige Stunden hier am Bahnhof warten müssten. Als wir dem Schaffner unsere Entscheidung mitteilten, schaute er besorgt auf unsere kleine erschöpfte Gruppe. Er hatte sich schon fast fünf Minuten lang mit uns unterhalten. Ich hatte noch nie einen Schaffner gesehen, der sich so viel Zeit für die Probleme und Sorgen von ein paar Wanderern nahm.
Plötzlich schaute er uns direkt an. »Schnell … wir fahren sofort los! Steigt schnell da vorne in den Zug ein. Allez vite! Schnell, schnell!«, rief er hastig und zeigte auf eine offene Tür im nächsten Waggon. Wir verstanden zwar nicht, was los war, aber wir packten schnell unsere Rucksäcke und rannten zu der Tür, auf die er gezeigt hatte, und stiegen ein. Erschöpft sanken wir auf ein paar der gemütlichen Polstersitze, und schon schlossen sich die Türen und der Zug setzte sich in Bewegung.
Wir erwarteten, dass nun der Schaffner kommen würde, um uns die Fahrkarten zu verkaufen. Offensichtlich war er selbst auch über den hohen Preis entsetzt. Vielleicht würde er uns ja gnädig sein und nicht den vollen Preis berechnen. Aber nun saßen wir schon im Zug. Was auch immer er von uns für die Fahrkarten haben wollte, mussten wir jetzt zahlen.
Wir schauten durch die Glastüren in den nächsten Waggon, von wo der Schaffner kommen müsste. Da sahen wir, wie er sich umdrehte und in die entgegengesetzte Richtung lief und Fahrkarten kontrollierte.
Langsam dämmerte es uns: Er hatte vor, uns kostenlos mitfahren zu lassen! Er hatte uns gerade eine Zugfahrt für über 250 Euro geschenkt! Dabei hatte er sicher seinen Job aufs Spiel gesetzt. Hätte ihn jemand erwischt, hätte er leicht seine Arbeitsstelle verlieren können.
An der nächsten Haltestelle stiegen wir aus. Wir suchten mit den Augen die anderen Zugtüren ab, um ihm als Dank wenigstens noch zuzuwinken, aber er war nirgends zu sehen.
Auf weichen Knien gingen wir zu unserem Bus. Wir konnten kaum glauben, was wir gerade erlebt hatten.
Nachdenklich drehte sich einer unserer Freunde zu uns um und sagte: »So ist Gott!« Wieder stiegen Gebete zum Himmel empor. Diesmal waren es Dankgebete. Ich dachte nach. Ja, das stimmt. Genauso ist Gott. Er gibt uns etwas, was wir nicht verdient haben und uns selbst nicht kaufen können – umsonst. Der Zug in den Himmel ist so teuer, dass man mit keinem Geld der Welt die Fahrkarte dafür kaufen könnte. Aber Gott hat den Preis selbst schon für uns bezahlt, und wenn wir das Geschenk annehmen, dann dürfen wir kostenlos mitfahren. Genauso wie wir damals im TGV.