Die dunkelste Stunde der Nacht, kurz vor Anbruch der Dämmerung, legt sich über das Felsengrab am Ölberg des alten Jerusalem. Zypressen und Olivenbäume strecken ihre Wipfel in die schweigende Dunkelheit. Der zarte Duft von aufblühenden Sträuchern durchzieht die milde Frühlingsnacht. Leise beginnen die ersten Vögel ihre Lieder anzustimmen, so als wollen sie das Licht locken: Komm doch ein wenig früher! Wir warten auf dich!
Doch um das Grab herum herrscht keineswegs Frühlingsstimmung. Römische Wachen umringen die Felsenhöhle. Ein römisches Siegel scheint den riesigen Stein vor dem Grabeingang zu umschlingen und an seinem Platz festhalten zu wollen. Die strengsten Sicherheitsmaßnahmen waren getroffen worden. Auf keinen Fall darf der Tote auferstehen, wie er selbst gesagt hat! Keiner der Soldaten wagt es zu schlafen oder sich auszuruhen. Das könnte ihm das Leben kosten. Alle warten verbissen und erschöpft auf den Sonnenaufgang.
Was war geschehen?
In dem Grab liegt Jesus von Nazareth. Vor drei Tagen hatten die Obersten des jüdischen Volkes ihn den römischen Behörden ausgeliefert. »Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!« Die Rufe des Volkes hallen noch immer in den Ohren vieler Menschen wie die fordernden Schreie einer Schar von Geiern. Keiner kann Ruhe finden nach diesem zehrenden Tag. Nach mehreren brutalen Verhören hatte man den blutenden, zerschundenen, schwachen, schweigenden Jesus ans Kreuz genagelt. Zwei Verbrecher zu seinen Seiten. Weinende Frauen, höhnende Soldaten, stolze Priester, Jesu gestützte Mutter, seine verstörten Freunde, die lästernde Menge, ratlose Gesichter.
Bis plötzlich zur hellsten Mittagszeit die Sonne ihr Angesicht verbarg und eine undurchdringliche Finsternis den leidenden, sanften Jesus gnädig wie in Gottes Mantel hüllte. Todesstille schien über Golgatha gekommen zu sein. Grelle Blitze zuckten vereinzelt aus der Wolke, die Jesus umgab, und offenbarten den unschuldig Verurteilten. War die Stunde der Vergeltung gekommen? Die Menschen wimmerten vor Angst.
Als die Dunkelheit letztendlich auch das Kreuz wieder freigab, hallte wie im Triumph der Ruf über die Hügel: »Es ist vollbracht.« »Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.« (Johannes 19,30; Lukas 23,46). Licht umstrahlte das Kreuz. Das Gesicht Jesu leuchtet wie der Glanz der Sonne. Er neigte sein Haupt auf seine Brust und starb.
Wie gelähmt stand die Menge da. Wieder senkte sich Dunkelheit auf die Erde. Ein lautes Grollen gleich einem lang anhaltenden Donner durchdrang den Boden unter ihren Füßen. Die Erde bebte und erzitterte. Gräber taten sich auf und gaben Tote frei. Die Schöpfung schien in Atome zu zersplittern. Priester, Oberste, Soldaten, Henker und das Volk, sie alle lagen stumm vor Schreck am Boden.
»Sollte dieser Mann wirklich Gottes Sohn gewesen sein?«
Noch vor dem Sabbat, dem Ruhetag der Juden, war Jesus dann in das Felsengrab eines reichen Mannes getragen worden. Drei seiner Jünger hatten die verkrümmten Glieder ausgestreckt und die zerbrochenen, gütigen Hände auf jener Brust gefaltet, in der das Herz nun nicht mehr schlug. Die galiläischen Frauen waren gekommen, um zu sehen, dass alles getan worden war, was man für die leblose Gestalt ihres geliebten Lehrers tun konnte. Sie sahen zu, wie der schwere Stein vor den Grabeingang gerollt wurde. Die Letzten waren sie am Kreuz gewesen, und nun waren sie auch die Letzten am Grab. Leer war die Welt ohne seine Gegenwart an diesem Sabbat.
Ein Engel erscheint den Wachen
Doch plötzlich ist ein immer stärker werdendes Grollen unter der Erde zu hören. Die Bäume beginnen zu zittern, die Erde wankt. Die Vögel verstummen auf ihren Zweigen. Erschrocken klammern sich die Wachen an den Boden und schauen voller Angst um sich. Schnell müssen sie sich abwenden, denn ein grelles Licht erleuchtete wie der Blitz den dunklen Morgenhimmel.
Eine große, strahlende Gestalt erscheint vor ihnen. Sie geht auf das Grab zu und rollt den Stein mit einer Leichtigkeit beiseite, als wäre er ein Kieselstein! Dann hören die Wachen den Engel sagen: »Sohn Gottes, komm hervor! Dein Vater ruft dich!« Wie im Traum nehmen die Soldaten alles wahr: Unzählige Engel, ein unsagbar schönes und warmes Licht, das alles durchflutet. Jesus tritt aus dem Grab – er, den sie zuletzt zerschunden und gemartert am Kreuz gesehen hatten, voller Blut und scheinbar von Gott verlassen. Voller Pracht und Herrlichkeit steht er vor ihnen! Alle Engel beugen sich vor ihm und singen ihm Loblieder. Bei diesem Anblick fallen die Wachen wie tot zu Boden.
Langsam verschwindet der himmlische Triumphzug. Die Wachen kommen zu sich und schauen sich um. Ihnen ist nichts geschehen! Eilig stehen sie auf und machen sich so schnell, wie ihre zitternden Beine sie tragen können, auf zum Gartentor. Torkelnd wie Betrunkene eilen sie in die Stadt und erzählen den Menschen die Neuigkeit: »Dieser Jesus ist auferstanden! Jesus ist auferstanden! Wir haben ihn gesehen!«
Die Frauen am Grab
Langsam schiebt sich die Morgensonne durch die Wipfel der Bäume und entlockt immer mehr Vögeln ihr Morgenlied. Der sanfte Morgentau legt sich auf Sträucher, Blumen und Grab und taucht den Garten in ein warmes, frohes Licht. Doch so fühlen nicht die Frauen, die sich gerade auf dem Weg zum Garten befinden. Sie sind gekommen, um Jesus zu salben.
Ahnungslos nähern sie sich dem Grab. Tränen vernetzen ihnen den Blick. Wie kann es nur sein, dass Jesus tot und regungslos in diesem kalten Grab liegt? Er, den sie liebten und verehrten, der immer nur Gutes und nie Böses getan hatte? Sinnlos erscheint ihnen alles, düster die Zukunft. Besorgt fragen sie sich: »Wer wälzt uns nur den Stein vom Eingang des Grabes?« (Markus 16,3) Wie können wir nur zu Jesus gelangen? Sie wissen es nicht, aber sie drängen weiter voran.
Plötzlich wird der Himmel strahlend hell. Die Erde grollt und bebt. Verwundert sehen sich die Frauen um. Sie kommen nicht alle aus derselben Richtung. Maria Magdalena, eine besonders enge Vertraute von Jesus, erreicht als erste den verhassten und geliebten Ort. Doch was ist das? Der Stein ist weggerollt! Schnell macht sie kehrt und rennt so schnell sie kann zurück zu seinen anderen Freunden, um ihnen von der seltsamen Begebenheit zu berichten.
Inzwischen kommen auch die anderen Frauen herzu. Sie wundern sich, denn ein warmes Licht scheint um das Grab. Aber der Leichnam ist nicht da! Sie setzen sich und schauen sich um. Plötzlich bemerken sie, dass sie nicht allein sind. Ein junger Mann mit leuchtendem Gewand sitzt am Grab. Es ist der Engel, der den Stein weggerollt hat, doch sie wissen es nicht. Er hat die Gestalt eines Menschen, aber um ihn herum leuchtet ein Licht himmlischer Herrlichkeit. Die Frauen fürchten sich. Sie wollen fliehen, doch da hören sie die freundliche Stimme des jungen Mannes sagen: »Fürchtet euch nicht! Ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Aber er ist nicht hier! Er ist auferstanden, wie er gesagt hat! Kommt her, seht den Ort, wo er gelegen hat! Dann geht schnell zurück und erzählt den Jüngern, dass Jesus auferstanden ist!« (Matthäus 28,5-7)
Noch einmal schauen sie in das Grab. Ein anderer Engel ist dort und bringt ihnen die gleiche Botschaft: »Jesus ist nicht hier! Er ist auferstanden!« (Lukas 24,5)
Er ist auferstanden! Er ist auferstanden! Immer und immer wieder sagen sich die Frauen diese Worte. Was für ein Tag! Rasch verlassen sie das Grab und rennen zu den Jüngern, um ihnen die frohe Kunde zu bringen.
Petrus und Johannes am Grab
Maria Magdalena hat die Nachricht nicht gehört. Sie eilt zurück zu Petrus und Johannes, zwei der vertrautesten Jünger von Jesus, und sagt ihnen, dass Jesus verschwunden sei. »Sie haben den Herrn aus dem Grab genommen!« (Johannes 20,2), erklärt sie traurig und besorgt. Die beiden Jünger laufen zum Grab und finden alles so vor, wie Maria es gesagt hat. Das Leichentuch und das Schweißtuch liegen ordentlich zusammengelegt auf dem Stein, wo Jesus gelegen hatte, aber Jesus ist nicht da! Da wissen sie: Jesus ist auferstanden! Er hat es ihnen voraus gesagt!
Maria Magdalena
Maria folgt Johannes und Petrus in einiger Entfernung zum Grab. Als die beiden nach Jerusalem zurückkehren, bleibt Maria allein am Grab. Sie blickt in das leere Grab, und Kummer erfüllt ihr Herz. Ihr kommen die Tränen. Wo ist Jesus nur?
Doch was ist das? Sie nimmt zwei Engel wahr – einen am Kopfende und den anderen am Fußende des Steines, wo Jesus gelegen hatte. »Frau, warum weinst du?«, fragen die Engel. »Sie haben meinen Herrn weggenommen!« (Johannes 20,13), antwortet sie mit tränenerstickter Stimme. Sie wendet sich ab und will Jesus suchen.
Da spricht eine andere Stimme sie an: »Frau, warum weinst du? Wen suchst du« Durch ihren Schleier von Tränen sieht Maria die Gestalt eines Mannes. »Das ist sicher der Gärtner«, denkt sie und fragt: »Wenn du Jesus weggetragen hast, sage mir doch bitte, wo du ihn hingelegt hast. Ich will ihn gern holen!« (Johannes 20,15) Wenn jemand meint, dieses Grab wäre zu wertvoll für Jesus, will sie ihn doch gern selbst beerdigen in einem Felsengrab in ihrem Garten.
»Maria!« sagt der Mann. Da weiß Maria: Es war keine andere Stimme als die ihres geliebten Jesus! In ihrer Freude vergisst sie, dass er gekreuzigt worden war, spricht ihn an und will seine Füße umklammern. »Warte! Ich muss erst zu meinem Vater im Himmel gehen.« (Johannes 20,16.17) Vor Freude macht Maria sich auf den Weg zu den Jüngern. Er ist auferstanden! Er ist auferstanden!
Was für ein Morgen!
Auferstanden am Ende der Zeit
Mit bleichen, aber erwartungsvollen Gesichtern schauen die Menschen nach oben. Die Spuren von Leid, Hunger, Entbehrung und innerer Seelenqual stehen ihnen ins Gesicht geschrieben. Doch aus ihren Augen strahlt eine Freude, eine Hoffnung, eine Erwartung, wie kein Mensch sie beschreiben kann. Da, am fernen Osthimmel sieht man eine kleine schwarze Wolke. In dieser fernen Wolke ist er, Jesus! Er, auf den sie so lange gewartet haben. Er, der täglich ihre Kraft und ihr Mut, ihr Freund und Begleiter, ihr Erlöser und ihr Meister gewesen ist.
Wie gebannt schauen die Menschen auf diese scheinbar dunkle Wolke in der Ferne. Alle schweigen und schauen, wie sich die Wolke der Erde nähert und dabei zusehends heller und schöner, größer und weißer wird. Ihre Unterseite leuchtet wie loderndes Feuer und über ihr steht ein wunderschöner Regenbogen.
Je näher die Wolke kommt, desto besser erkennt man: Tausende und Abertausende von Engeln begleiten den König der Könige mit himmlischen Liedern. Jesus reitet wie ein mächtiger Sieger voraus. Keine Dornenkrone entstellt mehr sein erhabenes Haupt. Nein, ein herrliches Diadem ruht auf seiner Stirn. Sein Angesicht strahlt heller als die Mittagssonne und offenbart die Herrlichkeit seines und unseres Gottes und Vaters. »Siehe da, unser Gott, auf den wir hofften, dass er uns rette!« rufen alle, die ihn so sehnlichst erwarten. (Jesaja 25,9 ELB; Johannes 20,17; Offenbarung 3,12)
Blitze zucken, die Erde taumelt, Donner rollen. Jesus hebt seine Hände zum Himmel und ruft mit lauter Stimme: »Erwachet, erwachet, erwachet, die ihr im Staube schlaft, und steht auf!« Auf der ganzen Erde hören die Toten, die ihn geliebt haben, diese Stimme und kommen aus ihren Gräbern hervor. Die Erde erbebt von den Tritten einer riesigen Schar aus allen Nationen, Geschlechtern, Sprachen und Völkern. Sie kommen aus dem Gefängnis des Todes, tragen Kleider unsterblicher Herrlichkeit und rufen: »Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?« (1. Korinther 15,55). Die Stimmen der lebenden und der auferstandenen Freunde Jesu vereinigen ich zu einem langen, fröhlichen Siegesjubel.
Engel werden ausgesandt, um die Wartenden zu holen und zur himmlischen Stadt Gottes zu leiten. Engel tragen kleine Kinder in die Arme ihrer Mütter; Freunde, die lange durch den Tod getrennt waren, werden wieder vereint, um nie mehr getrennt zu werden. Was für ein Wiedersehen! Mit Freudengesängen steigen sie gemeinsam zur Stadt Gottes auf.
»Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!« (Offenbarung 21,2-5 Luther 2017)
Was für ein Auferstehungsmorgen! Wollen auch Sie dabei sein?
Diese Nacherzählung des Auferstehungsmorgens zum Passahfest im Jahr 31 n.Chr. und des Auferstehungsmorgens am Ende der Zeit basiert auf den vier Evangelien Matthäus, Markus, Lukas und Johannes sowie den folgenden Kapiteln der Autorin Ellen G. White (1827-1915): »The Desire of Ages«, Kapitel 78 »Calvary« (»Golgatha«), Kapitel 80 »In Joseph‘s Tomb« (»In Josefs Grab«), Kapitel 81 »›The Lord is risen‹« (»›Der Herr ist auferstanden‹«) und Kapitel 82 »›Why weepest thou‹« (»›Warum weinst du?‹«) sowie »Vom Schatten zum Licht«, (»The Great Controvery«), Kapitel 40 »Gottes Volk wird befreit« (»God‘s people delivered«).
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