Eines Sabbats kamen Jesus und seine Jünger auf dem Rückweg vom Gottesdienst an reifen Kornfeldern vorbei. Jesus hatte länger als gewöhnlich im Dienst für Gott gearbeitet, und als sie so durch die Felder gingen, pflückten die Jünger Kornähren und rieben die Körner in den Händen aus den Spelzen, um sie zu essen. An jedem anderen Tag hätte das keinerlei Aufsehen erregt. Wer durch Getreidefelder, eine Streuobstwiese oder einen Weinberg ging, durfte so viel pflücken, wie er essen wollte (5. Mose 23,24.25). Doch am Sabbat war das eine Entheiligung. Getreideähren abzupflücken, war nämlich nicht nur eine Art »Ernten«; auch das Reiben in den Händen galt als eine Art »Dreschen«. Somit lag nach Ansicht der Rabbiner ein doppeltes Vergehen vor. Sofort beschwerten sich die Spitzel bei Jesus und sagten: »Siehe, deine Jünger tun, was am Sabbat zu tun nicht erlaubt ist!« (Matthäus 12,2)
Als Jesus an anderer Stelle des Sabbatbruchs beschuldigt wurde, verteidigte er sich damit, dass er Gottes Sohn sei und erklärte, dass er im Einklang mit dem Vater wirke. Als hier nun seine Jünger angegriffen wurden, verwies er seine Ankläger auf Beispiele aus dem Alten Testament, auf Handlungen, die Menschen im Dienst Gottes am Sabbat ausgeführt hatten. »Habt ihr nicht einmal gelesen«, fragte er, »was David tat, als er und seine Gefährten hungrig waren? Wie er in das Haus Gottes hineinging und die Schaubrote nahm und aß … welche doch niemand essen darf als nur die Priester?« (Lukas 6,3.4) »Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat wurde um des Menschen willen geschaffen, nicht der Mensch um des Sabbats willen.« (Markus 2,27) »Habt ihr nicht im Gesetz gelesen, dass am Sabbat die Priester im Tempel den Sabbat entweihen und doch ohne Schuld sind? Ich sage euch aber: Hier ist einer, der größer ist als der Tempel!« (Matthäus 12,5.6) »Somit ist der Sohn des Menschen Herr auch des Sabbats.« (Markus 2,28 ELB)
Wenn David seinen Hunger an den Schaubroten in der Stiftshütte stillen durfte, dann durften die Jünger das auch, indem sie in den heiligen Sabbatstunden Korn pflückten. Zudem arbeiteten die Priester im Tempel am Sabbat mehr als an anderen Tagen. Die gleiche Arbeit im weltlichen Geschäftsleben wäre Sünde gewesen. Die Priester aber taten ihren Dienst für Gott. Sie führten jene Riten durch, die auf die erlösende Macht des Messias hinwiesen. Ihre Arbeit stimmte völlig mit dem Ziel des Sabbats überein. Doch nun war dieser Messias selbst gekommen. Indem die Jünger Jesu Werk taten, waren sie im Dienst für Gott angestellt, und alles, was zur Ausführung dieses Werkes notwendig war, durften sie auch am Sabbat tun. Jesus wollte seine Jünger wie auch seine Feinde lehren, dass der Dienst für Gott oberste Priorität hat. Das Ziel im Werk Gottes auf dieser Welt ist die Erlösung des Menschen. Deshalb ist alles mit dem Sabbatgebot im Einklang, was am Sabbat getan werden muss, um dieses Ziel zu erreichen. Jesus krönte seinen Einwand dann mit der Aussage, dass er »der Herr des Sabbats« ist – derjenige, der über allen Fragen und jedem Gesetz steht. Der ewige Richter erklärt die Jünger für unschuldig, indem er sich genau auf die Gesetze beruft, deren Übertretung man ihnen vorwirft. Doch damit nicht genug: Jesus sagte seinen Feinden auch, dass sie den Sinn des Sabbats völlig verkannt hatten: »Wenn ihr aber wüsstet, was das heißt: ›Ich will Barmherzigkeit und nicht Opfer‹, so hättet ihr nicht die Unschuldigen verurteilt.« (Matthäus 12,7) Die vielen herzlosen Riten konnten den Mangel an jener echten Rechtschaffenheit und innigen Liebe nicht wettmachen, die immer ein Kennzeichen wahrer Gottesanbeter sind.
Jesus wiederholte noch einmal, dass die Opfer an sich wertlos waren. Sie waren Mittel und nicht Zweck. Ihr Ziel bestand darin, die Menschen zum Retter zu führen und sie so mit Gott in Einklang zu bringen. Für Gott zählt der Dienst, der aus Liebe geschieht. Fehlt die Liebe, dann ist das bloße Abspulen von Zeremonien für ihn eine Beleidigung. Das gilt auch für den Sabbat. Er wurde geschaffen, um die Menschen in Gemeinschaft mit Gott zu bringen. Doch wenn die Gedanken völlig von ermüdenden Zeremonien beansprucht sind, wirkt dies der eigentlichen Absicht des Sabbats entgegen. Seine rein äußerliche Befolgung wird zur Farce.
Der Sabbat und die verkrüppelte Hand
An einem anderen Sabbat sah Jesus in der Synagoge einen Mann mit einer verkrüppelten Hand. Die Pharisäer beobachteten gespannt, was er nun tun würde. Der Heiland wusste nur zu gut: Heilte er am Sabbat, dann würde man ihn als Sünder ansehen. Dennoch schreckte er nicht davor zurück, die Mauer traditioneller Forderungen einzureißen, die den Sabbat umgab. Jesus gebot dem Mann aufzustehen und fragte dann: »Ist es recht, am Sabbat Gutes oder Böses zu tun, Leben zu retten oder zu töten?« Die Juden hatten den Grundsatz: Wer Gutes nicht tut, das er tun könnte, der tut Böses. Wer es unterlässt, Leben zu retten, der tötet. So begegnete Jesus den Rabbinern auf ihrer Ebene. »Doch er bekam keine Antwort. Zornig und zugleich traurig über ihre Hartherzigkeit sah Jesus einen nach dem anderen an. Zu dem Mann aber sagte er: ›Streck deine Hand aus!‹ Er streckte sie aus, und die Hand war gesund.« (Markus 3,4.5 HfA)
Als Jesus hier gefragt wurde: »Darf man am Sabbat heilen?«, antwortete er: »Welcher Mensch ist unter euch, der ein Schaf hat und, wenn es am Sabbat in eine Grube fällt, es nicht ergreift und herauszieht? Wie viel mehr ist nun ein Mensch wert als ein Schaf! Darum darf man am Sabbat wohl Gutes tun.« (Matthäus 12,10-12)
Die Spitzel wagten nicht, Jesus vor der ganzen Menschenmenge zu antworten, denn sie fürchteten, sich damit in Schwierigkeiten zu bringen. Sie wussten, dass er die Wahrheit gesagt hatte, doch lieber sollte ein Mensch leiden, als dass sie ihre Traditionen brechen würden. Ein Tier hätten sie befreit, sonst hätten sie ja wertvolles Eigentum verloren. Auf diese Weise zeigten sie mehr Liebe zum Tier als zum Menschen, der nach dem Bild Gottes geschaffen wurde. Hier wird deutlich, wie jede falsche Frömmigkeit funktioniert. Sie entspringt dem menschlichen Wunsch, sich über Gott zu erheben, führt aber dazu, dass der Mensch unter das Tier erniedrigt wird. Jede Religion, die gegen Gottes Oberherrschaft streitet, bringt den Menschen um die Herrlichkeit, die er bei seiner Erschaffung besaß und die er in Jesus wiederfinden darf. Jeder falsche Glaube lehrt seine Anhänger, nachlässig mit den Bedürfnissen, dem Leid und den Rechten der Menschen umzugehen. Das Evangelium gibt der Menschheit als Jesu erkauftem Eigentum einen hohen Wert und lehrt liebevolle Aufmerksamkeit gegenüber der Not und dem Kummer der Menschen. »Ich will den Sterblichen kostbarer machen als gediegenes Gold, und den Menschen wertvoller als Gold von Ophir.« (Jesaja 13,12 SLT/LUT)
Als Jesus die Pharisäer fragte, ob es rechtmäßig sei, am Sabbat Gutes oder Böses zu tun, Leben zu retten oder zu töten, konfrontierte er sie mit ihren eigenen bösen Absichten. Mit bitterem Hass trachteten sie ihm nach dem Leben, während er Leben rettete und die Menschen glücklich machte. Was war besser? Am Sabbat zu töten, wie sie es planten, oder den Kranken zu heilen, wie er es tat? War es gerechter, an Gottes heiligem Tag über Mord nachzudenken oder eine Liebe für alle Menschen zu hegen, die sich in barmherzigen Taten ausdrückt?
Als Jesus die verkrüppelte Hand heilte, verurteilte er damit den jüdischen Brauch und ließ gleichzeitig das vierte Gebot so stehen, wie Gott es gegeben hatte. Er erklärte damit: »Man darf am Sabbat Gutes tun!« Er ehrte den Sabbat, indem er sich über sinnlose jüdische Einschränkungen hinwegsetzte. Diejenigen hingegen, die sich über Jesus beklagten, entehrten Gottes heiligen Tag.
Der Sabbat – ein echter Segen
Einige lehren, Jesus hätte das Gesetz abgeschafft. Sie sagen, Jesus hätte den Sabbat gebrochen und dasselbe auch bei seinen Jüngern gutgeheißen. Damit begeben sie sich aber auf denselben Grund und Boden wie jene Juden, die meinten, es besser zu wissen. Sie widersprechen damit Jesu eigener Aussage: »Ich habe die Gebote meines Vaters gehalten und bin in seiner Liebe geblieben.« (Johannes 15,10) Weder der Heiland noch seine Nachfolger brachen das Sabbatgebot. Jesus war die Verkörperung des Gesetzes. In seinem Leben gab es keine Übertretung von diesen heiligen Grundsätzen.
Der Heiland war nicht gekommen um abzuschaffen, was die Patriarchen und Propheten gesagt hatten. Er selbst hatte ja durch diese Repräsentanten gesprochen. Aber diese unbezahlbaren Edelsteine waren in falsche Fassungen gelegt worden. Gott wollte, dass sie aus ihrem irrtümlichen Gefüge herausgenommen und wieder in den richtigen Rahmen eingesetzt würden. Durch ihre Verbindung mit dem Irrtum hatte die Wahrheit dem Feind Gottes und der Menschen gedient. Jesus kam, um sie wieder dort einzusetzen, wo sie Gott verherrlichen und zur Errettung der Menschheit dienen würde.
»Der Sabbat wurde um des Menschen willen geschaffen, nicht der Mensch um des Sabbats willen.« (Markus 2,27) Die von Gott geschaffenen Einrichtungen sind zum Wohl der Menschheit da. Der Sabbat wurde für den Menschen geschaffen. Deshalb ist er der Tag des HERRN, der alles geschaffen hat. Er gehört Jesus.
Der HERR sagt: »Wenn du am Sabbat deinen Fuß zurückhältst, dass du nicht an meinem heiligen Tag das tust, was dir gefällt; wenn du den Sabbat deine Lust nennst und den heiligen [Tag] des HERRN ehrenwert; … dann wirst du an dem HERRN deine Lust haben.« (Jesaja 58,13.14) Für alle, die den Sabbat als Zeichen der Schöpfer- und Erlösermacht Jesu annehmen, wird er eine Lust sein. Wer in diesem Tag Jesus erkennt, findet seine Freude in ihm. Der Sabbat weist sie auf die Werke der Schöpfung hin als Beweis für seine mächtige Erlöserkraft.
Während er an den verlorenen Frieden Edens erinnert, erzählt er aber auch von dem Frieden, den der Heiland wiederbrachte. Und alles in der Natur wiederholt seine Einladung: »Kommt alle her zu mir, die ihr euch abmüht und unter eurer Last leidet! Ich werde euch Ruhe geben!« (Matthäus 11,28 HfA)
Gekürzt aus: Ellen White, The Desire of Ages, Mountain View, Kalifornien: Pacific Press Publishing Company (1898), Seite 284-289; vgl. Der Sieg der Liebe, Top Life Center Wien, S. 201-208.