Als ich 19 Jahre alt war, half ich einem Nachbarn beim Umzug seiner Wohnung, seines Lagers und seiner Werkstatt nach Süd-Alberta in Kanada. Es bedeutete ein paar Wochen Arbeit, bis alles soweit geschafft war. Dann machte ich mich auf den Weg gen Norden Richtung Alaska. Am 1. Februar hatte ich fast tausend Meilen hinter mich gebracht und wollte zu einer Handelsstation am Liard River vordringen. Mit Schneeschuhen kämpfte ich mich durch einen heulenden Blizzard und folgte mühsam den Biegungen eines Bachlaufs, der, so rechnete ich mir aus, zum Fluss führen müsste. Ich hatte reichlich Proviant mitgenommen, als ich aus der Siedlung am Peace River aufgebrochen war. Doch der heftige Schneesturm hatte mich tagelang festgehalten. Meine Lebensmittel waren aufgebraucht, sodass ich zum Weiterlaufen gezwungen war, wollte ich nicht erfrieren.
Ich hatte die Hoffnung auf Erfolg schon fast aufgegeben und fragte mich, ob mich irgendjemand vermissen würde, als ich plötzlich eine Stimme sagen hörte: »Jetzt links!« Ich schaute mich erschrocken um, aber es war niemand zu sehen. Ich ging Richtung Norden, doch die Stimme meldete sich wieder – nachdrücklicher: »Nach links!«
Kurswechsel
Mir war schleierhaft, warum ich links abbiegen und mich vom Bachbett entfernen sollte. Linker Hand lag eine Hügelkette, und aus dieser Richtung kam auch der beißende Wind. Also stapfte ich weiter nach Norden. Doch ein seltsames Gefühl beschlich mich. Rannte ich Gott davon? Es wurde so unerträglich, dass ich auf den Kompass schaute und doch Kurs auf die Hügel nahm.
Meile um Meile lief ich bergauf, halb blind vom Schneetreiben. Das Gehen war sehr anstrengend. Die Polardämmerung senkte sich langsam herab, als ich gerade die Wasserscheide überschritt und in ein anderes Bachbett hinabstieg. Ich wollte mich rechts halten und nun diesem Bach zum Fluss folgen. Doch wieder war da die Stimme, die darauf bestand, dass ich nach links gehen solle.
Die einsame Hütte
Einige Ruten bachaufwärts gewahrte ich eine Hütte, die halb unter dem Schnee begraben war. Das bedeutete Schutz und vielleicht auch Essen. Mit meinen Schneeschuhen als Schaufel grub ich mich bis zur Tür vor und trat ein. Es war stockdunkel, doch aus der Finsternis kam ein Stöhnen. Ich zündete ein Streichholz an.
Ein alter Mann lag in einem Schlafsack auf einem niedrigen Bett. Sein Bart und seine Augenbrauen waren von seinem Atem ganz vereist, seine Augen eingesunken und fiebrig. Ich eilte aus der Hütte und sammelte in der Nähe, solange die Dämmerung noch nachklang, etwas Gestrüpp. Bald schon brannte ein Feuer.
Ich schaute in der Hütte nach Lebensmitteln, aber es war nichts zu finden. Als sich das Zimmer erwärmte, gelang es dem Mann, ein wenig zu reden. Er hieß Henry Bruce und war auf dem Weg zur Handelsstation gewesen, als er gestürzt war und sich das Bein gebrochen hatte. Dann war er in die verlassene Hütte gekrochen in der Hoffnung, jemand würde ihn dort finden. Eine Woche war er nun schon hier.
Gebet bewegt Gottes Arm
Als er die Hoffnung aufgegeben hatte, wandte er sich im Gebet an Gott und bat ihn, doch Hilfe zu senden. Dieses exakte Timing erschütterte mein jugendliches Selbstvertrauen. Denn ich erkannte, dass eine Hand aus dem Himmel eingegriffen hatte, um das Gebet eines alten Mannes zu erhören. Gerade als ich mir darüber Gedanken machte, ob mich jemand vermissen würde, sandte Gott seinen Engel, um mich zu dieser einsamen Hütte zu führen.
Ich wusste, dass schnell Nahrung und medizinische Hilfe besorgt werden mussten. So legte ich genug Holz nach, dass das Feuer die Hütte noch stundenlang warm halten würde und schmolz Schnee, damit der alte Mann etwas zu trinken hatte.
»Wo kann ich etwas einkaufen?«, fragte ich. »Etwa 20 Meilen westlich«, sagte er.
Wieder spürte ich eine seltsame Ehrfurcht. Ich war in die falsche Richtung unterwegs gewesen, auf dem Weg in eine öde Wildnis; zu stolz, um Hilfe zu bitten; zu selbstgefällig, um zu beten. Doch das Gebet eines alten Mannes, der Gott brauchte und um Hilfe bat, hatte Gott einen Vorwand geliefert, mich in die richtige Richtung zu lenken.
Der alte Mann gab mir eine kurze Wegbeschreibung zur Station und sagte dann fast ehrfürchtig: »Lass uns beten, bevor du gehst!«
Ich kniete an seinem Bett wie einst zu den Füßen meiner Mutter, während er mir die Hand auf den Kopf legte und mit leiser, stockender Stimme Gott darum bat, auf mich aufzupassen.
Der Wind hatte sich gelegt und die Sterne schienen, als ich die Hütte verließ. Das Thermometer musste in der stillen Nacht auf etwa vierzig Grad minus gesunken sein. Mein Magen tat weh und meine Knochen schmerzten. Aber ich vergaß meine Erschöpfung, weil mich jemand brauchte.
Fast brachte ich die Meilen rennend hinter mich in dem verzweifelten Versuch, Hilfe zu holen, bevor das Feuer ausgehen und die Polarkälte hineinkriechen würde, um den erstarren und sterben zu lassen, dessen Gebete Gottes Ohr erreicht hatten. Obwohl meine eigene Kraft von nächte- und tagelanger Wanderung ohne Schlaf, Ruhe oder Nahrung schnell am Ende war, schien ich wie im Traum zu wandern, begleitet von einer unsichtbaren Macht, die meine Schneeschuhe einen vor den anderen setzte. Ich erreichte die Handelsstation gerade, als die Sterne verblassten. Zwei starke Männer und ein schneller Hundeschlitten wurden losgeschickt, um dem alten Mann Essen zu bringen und ihn zur nächsten Krankenstation zu transportieren.
Der Gott Abrahams ist auch heute noch derselbe
Man gab mir ein gutes Frühstück und steckte mich in einem warmen Zimmer ins Bett. Doch die Gedanken ließen mich nicht los: Gott rief Abraham, Isaak und Jakob vor Jahrtausenden, aber mich rief er gestern. Derselbe Gott, der Jona sandte, um die Einwohner von Ninive zu retten, sandte mich, um Henry Bruce zu retten. Derselbe liebende Heiland, der mit den drei Männern im Feuerofen auf- und ablief, ließ mich durch den Blizzard und die bittere Kälte laufen. Das Gebet und der Glaube eines alten Mannes hatten Gottes Hand bewogen, einzugreifen, mich im Schnee anzuhalten und meinen Kurs und mein Leben zu ändern.
Das Gebet hatte plötzlich eine neue Bedeutung für mich
Der alte Trapper erholte sich und ging nach Edmonton zu seinen Verwandten zurück. Er hatte mir gezeigt, dass Beten modern und up to date ist. Er bat, glaubte und empfing.
Von diesem Tag an hatte das Gebet für mich eine neue Bedeutung. Bis dahin war das Gebet für mich eine gottesdienstliche Handlung gewesen. Ich hatte es als Mittel zur Sündenvergebung benutzt. Das Gebet stand für mich im Zusammenhang mit dem Leben nach dem Tod. Ich dachte, es sei meine Aufgabe, mich in diesem Leben um mich selbst zu kümmern. Erst danach würde Gott entscheiden, was aus mir werden würde. Aber jetzt hatte ich meine Meinung geändert. Ich hatte mit eigenen Augen die freundliche Fürsorge des Retters für einen verkrüppelten Trapper in einer einsamen Hütte gesehen, hatte sie gespürt und gehört. Das Gebet des alten Mannes hatte mir gezeigt, dass der ganze Himmel am Wohl der Menschen interessiert ist. Ich las erneut die wunderbaren Verheißungen von Gottes Wort an jeden Einzelnen: »Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, auf dem du wandeln sollst; ich will dir raten, mein Auge auf dich richten.« (Psalm 32,8) »Deine Ohren werden hinter dir das Wort hören: ›Dies ist der Weg; den geht!‹, wenn ihr zur Rechten oder zur Linken abbiegen wollt.« (Jesaja 30,21)
Nun waren das nicht mehr bloße Bibelverse für mich, sondern persönliche Botschaften von Gott für mein Herz. Ich hatte erlebt, dass sie wahr sind. Denn ich hatte die Worte gehört: »Jetzt links!«
Noch ein Vers ist mir wertvoll geworden: »Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir; sei nicht ängstlich, denn ich bin dein Gott; ich stärke dich, ich helfe dir auch, ja, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.« (Jesaja 41,10)
Ich wurde mehr und mehr davon überzeugt, dass Gott mich rief, mich brauchte, dass ich Teil seines Planes war. In den nächsten Tagen und Wochen betete, reflektierte und las ich viel. Ich erinnerte mich daran, dass ich Gott mit zwölf mein Leben versprochen hatte. Jetzt lief ich wie Jona vor ihm davon. Ich hatte versucht, in die Wildnis des Nordens einzutauchen, in der Meinung, Gott würde mein Versprechen vergessen. Doch Gott vergisst nicht. Er ringt um jede Seele: »Gib mir, mein Sohn, dein Herz!« (Sprüche 23,26)
Die Liebe und Fürsorge meines himmlischen Vaters war zu groß, als dass ich ihr hätte widerstehen können. Ich glaubte, dass Gott mich liebte, dass ich mein Leben seiner leitenden Fürsorge anvertrauen konnte. Die Verheißung Jesu, die er seinen Jüngern beim Abschied gab, wurde mir sehr wertvoll: »Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Weltzeit!« (Matthäus 28,20)
Diese Erfahrung hat ihre Wirkung auf mich nie verloren. Das Gebet war für mich nun kein formeller gottesdienstlicher Akt mehr, sondern ein Horchen auf die liebevolle Stimme eines Freundes. Jetzt wusste ich, dass der liebende Retter immer an meiner Seite war, nicht, um meinen Willen zu tun und für mich Werbung zu machen, sondern um mir zu helfen, seinen Willen zu tun und ihn zu verherrlichen.
Vor allem aber hat mich die Macht des Gebets ernüchtert und mir Ehrfurcht eingeflößt. Ich habe gesehen, wie Kranke gesund, Sünder und Verbrecher zu liebevollen Heiligen, Gemeinden gegründet und ganze Orte verwandelt wurden – alles durch ernst gemeintes Gebet.
Als Admiral Byrd alleine einen Winter in Little America in der Nähe des Südpols verbrachte, hatte er ein Funkgerät, mit dem er Nachrichten senden und empfangen konnte. Es war seine einzige Verbindung zur Außenwelt. Hätte er dringend Hilfe gebraucht, hätte er in wenigen Minuten die Außenwelt verständigen können, und doch hätte es Monate gebraucht, bis die Hilfe eingetroffen wäre. Doch wenn wir Hilfe brauchen und darum bitten, ist sie sofort verfügbar. Das Gebet verbindet uns mit der Kraftquelle und verschafft uns den Zugang zu allen Reichtümern des Himmels. Wahres Gebet ist das lebendige Band, das unsere Herzen an Gott bindet.
Quelle: »What Prayer Did for Me« in: Signs of the Times, 14. Mai 1956